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An ihm kommt keiner vorbei

Wer so viel Glück hatte als Gelehrter im vierten Jahrhundert vor Christus gelebt zu haben, der könnte heutzutage mit Stolz darauf blicken, wie ein ums andere Mal sein Gedankengut zur Grundlage für Denkprozesse in der Postmoderne würde.

Aristoteles dürfte sich glücklich schätzen. 384 v. Chr. in Makedonien geboren, entwickelte er als Schüler Platons eine Menge Ideen und begründete etliche Disziplinen und beeinflusste wieder andere entscheidend. Eine dieser Disziplinen ist die Poetik, auf die heutige Germanisten nicht verzichten, einzig und allein der Tatsache wegen, dass die Überlieferungen des alten Griechen Aristoteles den Ausgangspunkt für die normative Gattungslehre bilden. Im Fokus der nachfolgenden Darstellung stehen Aristoteles’ Ausführungen zur Tragödienlehre. Zugrunde gelegt werden die Paragraphen 5 bis 11 der Poetik des Aristoteles, da sie inhaltlich diesen Schwerpunkt behandeln.

Die vershafte Kunst der Nachahmung

Grundlegend für Aristoteles’ Poetik ist der Begriff der Mimesis. Zu Deutsch heißt das in etwa “Nachahmung”. Ähnlich der Malerei oder dem Tanz, sei alle Dichtung nach Aristoteles (fortan mit A. abgekürzt) Mimesis. Epik und Dramatik verfügen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dies lässt A. uns in Paragraph 5 wissen. In beiden herrscht die metrische Rede vor. Während sich das Epos in immer gleiche Verse schmiegt, alterniert das Metrum bei der Tragödie.

An dieser Stelle nicht Drama zu schreiben, sondern immer wieder von der Tragödie, soll vor allem deutlich machen, dass es in der wissenschaftlichen Betrachtung solcher Topoi auf genaue Definition ankommt. Die Abgrenzung der einzelnen Begriffe hilft enorm, wenn man Unterschiede besser heraus arbeiten möchte. Dies lässt sich jedoch nicht in jedem Fall durchhalten. Vom Drama als Oberbegriff ausgehend, könnte man so viel leichter feststellen, dass die Begriffe Tragödie, Komödie, (bürgerliches) Trauerspiel, usf. allesamt Dramen(formen) bezeichnen, jedoch in ihrer Funktion als Gattungsbezeichnung über diverse Besonderheiten verfügen.

Eine Tragödie zeichnet sich überdies vor einem Epos dadurch aus, dass sie

“versucht so weit als möglich sich in einem einzigen Sonnenumlauf oder doch nur wenig darüber hinaus abzuwickeln.” (§5)

Nicht die Komödie

Die antike Tragödie ist, wenn man A. folgen möchte, die Königsdisziplin. Zum einen kann das Epos der Tragödie, im Sinne A.s, schon aus formallogischen Gründen nicht das Wasser reichen:

“Denn alles, was das Epos besitzt, besitzt auch die Tragödie; was aber die Tragödie hat, ist nicht alles im Epos.” (§5)

In Paragraph 6 wird dann zunächst eine genauere Betrachtung der Tragödie vorgezogen, und die Untersuchung der Komödie hintangestellt. Eine abgeschlossene Handlung steht im Mittelpunkt der Tragödie.

Je strenger man das normative Gattungsverständnis voraussetzt, desto eher bedeutet eine Abweichung vom Schema, dass es sich nicht mehr um eine antike Tragödie im klassischen Sinn handeln kann. Die Handlung wird nicht nur, sondern muss demnach in Form von aktiver Rede vorgetragen werden. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Rede der Charaktere nicht einem Bericht gleichen darf. Elemente wie das Beiseite-Sprechen oder Monologisieren sind vor diesem Hintergrund als Erfindungen neueren Datums einzustufen. Aristoteles bemüht an späterer Stelle zudem den Vergleich eines Dichters mit einem Historiker, um den Sachverhalt deutlich zu machen. Der Dichter erzähle, was geschehen könnte, wohingegen der Historiker berichtet (erzählt), was geschehen ist (vgl. §9). Unmittelbar an diesen Gedanken schließt eine Wertung A.s an. Er hält nämlich die Dichtung für “philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung” (§9). Hätte A. damals geahnt, dass moderne Historiker und Wissenschaftler anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen ebenfalls in der Lage sind mehr oder weniger gesicherte Prognosen auf die Zukunft abzugeben, hätte er sich mit Sicherheit nicht derart weit aus dem Fenster gelehnt.

Aber zurück zum Wesentlichen: Im Zentrum der Tragödie muss der Mythos stehen. Nach Aristoteles sei dies “die Zusammensetzung der Handlungen” (§6). Zwar handeln die Charaktere, jedoch obliegt ihr Tun vornehmlich der Präsentation der Handlung(en). Im Wesentlichen hat sich selbst in modernen Dramen an dieser Anforderung nichts verändert. Einzige Ausnahme bilden die so genannten Charakterdramen, in denen es explizit um die Darstellung zumeist eines einzelnen Protagonisten geht.

Dieser formale Aspekt lässt Rückschlüsse auf die Verfasstheit der damaligen Gesellschaft zu. In der Antike war man weit davon entfernt sich auf säkularisierten Pfaden zu bewegen. Selbst der Dichter galt nur als Sprachrohr der Götter. Seine Eingebung kam von oben. Mit der Mimesis hätte man gegen die gesellschaftlichen Vorgaben gehandelt, hätte man sie vor allem zur Anschauung der Charaktere eingesetzt. Unumstößliches Fazit A.s an dieser Stelle: Ohne Handlung keine Tragödie, ohne Charakter jedoch ohne weiteres.

Die Handlungen tragen charakteristische Züge, damit die Mimesis auf Wiedererkennung beim Publikum trifft. Ein weiteres Element der Handlung ist die Peripetie, die entscheidende Wendung. Nachdem paradigmatisch auf einen Höhepunkt hingearbeitet wird, löst sich ab dem Zeitpunkt, an dem die Peripetie eintritt, der Spannungsfaden wieder auf. Vor allem der Aspekt der Wiedererkennung ist es, der den Zweck der Tragödie erfüllen helfen soll. Die Katharsis, zu Deutsch “Reinigung”, soll mit Hilfe von Jammer (griech. eleos) und Schauder (griech. phobos) erreicht werden und so am Ende den Zuschauer von selbigen Affekten befreien helfen.

Teile in der Summe ein Ganzes

A. spezifiziert die Beschaffenheit der Handlung noch genauer. Er verlangt ihre Abgeschlossenheit, sie müsse ganz sein, ein Ganzes. Es folgt im 7ten Paragraphen eine in der Übersetzung, und wohl auch im Original, redundant scheinende Erläuterung dessen, was ganz sei.

“Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt.” (§7)

Diese Aussage ist keineswegs redundant. Sie weist uns auf eine Dreiteilung hin, die klassische Unterteilung in drei Akte. Dann allerdings liefert A. Erklärungen ab, was er unter einem adäquaten Anfang, einer entsprechenden Mitte und einem passenden Ende versteht. Diese Erläuterung würden Mathematiker als trivial abstempeln, und das ist auch gut so, denn im Wesentlichen erklärt die (An-)Ordnung der Teile ihre Funktion. Ein Ende kann nur sein, das nichts nach sich zieht, usf. Neben der Ordnung ist die Länge des Mythos von Wichtigkeit. Und zwar muss diese “erinnerlich bleiben können” (§7).

Sodann argumentiert A. im 8ten Paragraphen stärker produktionsorientiert. Eine Einheit der Handlung hängt von der Arrangierbarkeit der Teile ab. Eine Einheit in der Handlung erhält man genau dann, wenn das Fehlen eines der Teile sich auswirkt. Ist dies nicht der Fall, kann man den entsprechenden Teil als entbehrlich ansehen.

“Die Teile der Handlung müssen so zusammengesetzt sein, daß das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein einziger Teil umgestellt oder weggenommen wird. Wo aber Vorhandensein oder Fehlen eines Stücks keine sichtbare Wirkung hat, da handelt es sich gar nicht um einen Teil des Ganzen.” (§8)

Im Ablauf der Handlung kommt nach A. Großes zu Fall und wird Kleines erhöht. Anders könne man Furcht und Mitleid (vgl. eleos u. phobos) nicht erzeugen. Das Geschehen würde erstaunlicher, wenn es nicht zufällig wirke (vgl. §9). Doch damit noch nicht genug mit der Handlung. A. verlangt von ihr eine gewisse Komplexität, “deren Ablauf über Peripetie oder Entdeckung oder beides führt” (§10). Der Umschwung der Handlung (Peripetie) ist bereits bekannt. Was in der Übersetzung an dieser Stelle als “Entdeckung” bezeichnet wird, ist gemeinhin mit Anagnorisis bezeichnet. Gemeint ist ein Wiedererkennen (von Freunden oder Verwandten). Der Moment in dem die Anagnorisis stattfindet kann zur Auflösung der Verwicklungen führen, meist jedoch wird sie als tragisches Element eingesetzt. Dann nämlich, wenn beispielsweise der Mord an Verwandten durch die eigene Hand zu spät erkannt wird. A. setzt die Verwendung mindestens eines der Elemente voraus, damit ein Handlungszusammenhang als komplex erscheinen kann. Entweder Peripetie oder Anagnorisis, oder die Anwendung von beiden Hilfsmitteln führt zu einer verschlungenen Handlung. Die Verwendung der Elemente ist keinesfalls willkürlich. Sie muss sich nach A.

“aus der Zusammensetzung des Mythos selbst ergeben; es muß also aus dem Voraufgegangenen hervorgehen entweder mit Notwendigkeit oder mit Wahrscheinlichkeit. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis durch ein anderes erfolgt oder bloß nach einem anderen.” (§10)

One reply on “An ihm kommt keiner vorbei”

Ein wirklich sehr guter Text, den du da geschrieben hast. Hilft dank der guten Formulierungen sicherlich beim Lernen. Fehlt jetzt eigentlich nur noch die graphische Darstellung, in dem du das “Tragödien-Dreieck” schön darstellen kannst :). Knutsch

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