Frühlingsknospen

„Im Kopf“, sagte er.

„In deiner Hose vielleicht“, gab sie entschieden zurück.

„Nun, und… ?“, wollte er daraufhin von ihr wissen.

„Wie ‚und’?“ – Sie verstand nicht. „Was soll das heißen?“

„Hast Du ein Problem damit?“

„Womit?“, frug sie seicht schrill und ungeduldig.

„Damit, dass Männer manchmal mit der Hose denken.“

Das Gespräch war an einem Punkt angelangt, da er es nicht mehr lenken konnte. Er hatte es aus der Hand gegeben, durchaus ein wenig freiwillig. Er warf ihr einen koketten Blick zu. Seine Hände allerdings verschwanden schüchtern in seinen Hosentaschen. Nun war es ein Glücksspiel. Die Kugel hatte er in ihr Roulette geworfen – wer nichts wagt, der nichts gewinnt, so sagt man. Jetzt entschied ihre Willkür über den Ausgang. Sie konnte Euphorie in ihm auslösen oder für Begräbnisstimmung sorgen.

Ein sündiger Augenaufschlag von ihr verriet ihm den Fortgang, noch ehe sie die Lippen spreizte, um auf seine Behauptung zu reagieren. Zunächst deutete sich ein verschmitztes Lächeln an. Er glaubte, die feinsten Adern an ihrem organischen Schallverschluss pulsieren zu spüren. Vincent hing mit sehnsuchtsvollen Augen an diesem lüsternen Zitronenmund; sein Bild gab nur einen Bruchteil der augenblickshaften Wahrheit wider und doch war er drauf und dran, zum Sklaven seiner phantastischen Realität zu werden. Er fühlte, ohne es geschehen zu lassen.

„Ich habe kein Problem damit, wenn Du manchmal mit der Hose denkst.“ – Sie verlieh der persönlichen Anrede bald schon obszönen Nachdruck.

Clara hatte ihn mit ihrer Replik in einem gedanklichen Elysium inhaftiert, in dem Vincent so gerne lebenslang eingesperrt bleiben wollte. – Beide liebten sich an diesem Tag zum ersten Mal, und in der zeitvergessenen Folge immer wieder. Sie waren nach Claras Ausspruch von der Terrasse auf dem Anwesen ihrer Eltern aufgestanden.

Er griff nach der Lehne des gusseisernen Stuhls, auf dem er zuvor gesessen hatte und schob ihn an den Tisch heran. Auf der glänzenden Lackschicht über dem Terrakotta-Rund spiegelten sich die ersten Frühlingsgrüße der Sonne. Vincent kratzte sich die Oberfläche seiner linken Hand an der Hecke ein bisschen blutig als er den Stuhl wieder an Ort und Stelle bewegen wollte. Die Hecke, die ihn zuvor noch gesäumt hatte, war nun nicht mehr ein schützendes Element zu nennen. Er hatte sich unachtsam verhalten. Einem leisen „Au.“ folgte die Bewegung seiner Hand zum Mund.

***

Clara hatte seinen Arm nicht fortfahren lassen. Sie hatte ihn gefasst und die Hand zu ihrem Gesicht heran gezogen. Er hatte sich fassen lassen, und diese Berührungen von ihr gingen so tief, sie machten ihm beinahe Gänsehaut. Clara hatte liebevoll seinen dunklen Lebenssaft betrachtet, wie er sich dezent in Tropfen sammelte. Dann hatte die erst zwanzigjährige Französin aus dem Béarn die Stelle geküsst, an der er sich die Hand aufgekratzt hatte. Myriaden von Hormonschwämmen ließen ihn denken, er könne fliegen. Wonne breitete sich in seinem Lächeln aus und er fühlte sich vom Glück umarmt. Damals.

Er schluckte hilflos, als er jetzt in ihre zarten Augen sah. Eine Fotografie, die ihm die Erinnerung schmerzlich immer wieder in sein Leben spülte. Vincent spürte den Wunsch zu weinen in ihm aufkeimen. Er rieb mit seinen Fingen über das Foto und zog dann die Nase hoch. Er griff zu einem Taschentuch in seiner Hose. Der blonde Mitteleuropäer stand heute, da zehn Jahre ins Land gegangen waren, wieder alleine. Jeden Frühling nahm er sich die Zeit, zu ihr zu reisen, und doch konnten sie einander nicht mehr in die Augen schauen. „Eine Schande“, schluchzte er. Claras prismatische Tore zu ihrer Seele hatten ihn einige Jahre lang begleitet, und er war immer noch so dankbar.

Als Vincent sieben Jahre alt war, nahm man ihm seinen Hund. Das Tier wurde eingeschläfert. Clara schlief denselben Schlaf, den ewigen Schlaf einer Gerechten. Mit siebenundzwanzig war sie in seinen Armen friedlich eingeschlafen. Sie war einem Schwächeanfall erlegen und kollabiert. Die Notärzte hatten sie zur Diagnose in das nahegelegene Krankenhaus gebracht. Die Untersuchung ihres Blutbildes förderte ein erschreckendes Ergebnis zu Tage, das Claras gesamtes Umfeld in ein Unglück stürzte. Alle Behandlungsmethoden schlugen bei dieser so frohen und lebensbejahenden Persönlichkeit nicht an, und es fand sich nicht rechtzeitig ein Knochenmarkspender. Einige Monate nach ihrem Kollaps war Clara an akuter Leukämie gestorben.

Vincent betrachtete die Frühlingsknospen des Dornbuschs neben Claras Grabstelle. Er hatte damals Himmel und Hölle in Bewegung versetzt, um diesen Platz für ihr Grab zu erhalten. Dornbusch ist anspruchsvoll und gedeiht nicht überall. Doch eben die Frühlingsknospen von Dornbusch hatten sie beide aus ihrem Fenster heraus gesehen, als sie das erste Mal nebeneinander aufgewacht waren. Er würde wiederkommen.

Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert 2007 [PDF]

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