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Kopflos

Zwischen Tag und Nacht legt sich die Dämmerung; in einer Sanduhr fällt ein letztes Korn.

Drei Meter über dem grauen Velours erstreckt sich das pastellene Deckenkonstrukt: darin eingelassene Strahler schimmern gedämmt durch die matte, düstere Luft. Wenige Staubfasern winseln lautlos, vom künstlichen Lichtschein als organische Zeugen dieser späten Stunde in Szene gesetzt. Die illuminierten Punkte in der Decke wirken wie invertierte Löcher in einem cremefarbenen Käse. An den Wänden ringsum – Bilder: Portraitaufnahmen ohne Portrait. Ein kontraststarkes Arrangement von Ölfarben zeigt Umrisse von blassen Körpern, von immer demselben Körper. Schwarz über Rot; ein sattes Hemd springt unter einem dunklen Nadelstreifenoberteil hervor. Um den käsigen Kragen zwängt sich eine gestreifte Krawattenschlaufe – ein Sündenfall, dem das Fruchtige und Saftige abhanden gekommen ist. Seltsam verkürzt, wirken diese Abbildungen leblos. Eine wie die andere, in immer dieselben Kleider gehüllt, erstreckt sich die erahnte, menschenähnliche Form über eine Leinwand; ohne Extremitäten. Dort, wo Arme, Beine oder Kopf zu denken wären, knickt das Leinen um und entflieht, ungesehen von etwaigen Betrachtern, auf die Rückseite gewendet – unmerkliche Ausdünstungen von Farbe treten in Interaktion mit der dahinter liegenden Wand. Auf jeder fensterlosen Seite eifern drei identische Repliken um die Symmetrie zu einem fatalen Fixpunkt in der Raummitte, dort also, wo der Untergrund sich einst voll sog und verfärbte. Ein mehlig madiger Geruch geht von dieser Stelle aus – blutige Tropfen hatten sich sukzessive zu der Kreisform zusammengezogen. Ohne Eigenbewegung hängt loten an einem silbernen Faden eine entstellte Fratze, ein Schädel mit Haut und Haaren, wie andernorts eine Diskokugel unter der Decke hängt, die in ihren vielen spiegelnden Reflexen Kinderaugen zum Funkeln bringt.

Die Lider des toten Hauptes senkten sich über trübe Linsen. Ein nächster Augenaufschlag ließ diese Imagination aus dem adulten Bewusstsein weichen; er fühlte sich zu sammeln, sich zu schütteln und wollte einen klaren Gedanken fassen, so es ihm das Leben noch erlaubte.

Ein Straßenpolizist fand den Kopf eines ihm noch unbekannten Autofahrers auf dem Asphalt liegen, drei Meter entfernt von der eigentlichen Unfallstelle. Bei einem Verkehrsunglück war dieser tragischerweise vom Torso abgetrennt worden.

Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert am 30. Mai 2006 [PDF]

One reply on “Kopflos”

Deine Beschreibung ist sehr detailliert, aber auch distanziert. Außer einem kalten, diffusen Gefühl des Unwohlseins empfand ich nichts beim Lesen des Textes. War das so gewollt? Die Art, wie Du die Atmosphäre beschrieben hast, gefällt mir.

Gruß 😉

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