Der kleine Mann und das Meer

Er stand im Schatten seiner selbst und blickte mit unruhig blinzelnden Augen auf das Meer vor sich hinaus. Der rege Positionswechsel seiner Wimpern ließ keinen anderen Schluss zu: er war nervös. Die Uhr am Gelenk schien an der Hosentasche zu kleben, weil seine Hand darin schamvoll zu versinken drohte. Sie schien ein einziges beständiges Zeichen zu sein, dass von ihm Ausging. Das halbe Hemd steckte in der Hose und machte ihn nicht dicker noch dünner, und es ließ ihn nicht schwitzen. Sein dunkelbrauner, bald schwarzer Vollbart wirkte fehl am Platz, er ließ ihn nur bedingt älter wirken und machte aus ihm nicht den Mann, der er vielleicht gerne hätte sein wollen. Es schien als wären die Dinge an ihm und um ihn herum auf ihre Weise autonom; nicht er schien sie zu kontrollieren. Derart in der Gegenwart gefesselt und nicht Herr seiner, noch irgendeines Anderen Lage stand dieser kleine Mann mit unruhigen Augen blickend und zittrigem Kehlkopf intonierend vor dem immer wieder Wellen werfenden Meer, dessen Gischt ihm bisweilen wie ein Schlag ins Gesicht anmutete, zumindest anmuten musste.

In seiner Mundhöhle schob der rosa Lappen, der ihm gehörte und den er kontrollieren konnte, nervös eine Emser Pastille hin und her, um seine Angespanntheit zu überspielen und gleichwie doch nicht zu unterdrücken. Vielmehr blendete er die Wut aus, über die er nicht verfügte. Kein Aufbrausen in ihm hätte eine Gemütsregung aus ihrem Versteck hervorziehen lassen und ihm geholfen aus seinem eigenen Schatten zu fliehen, der ihm selbst – immer neu – immens vorkam und den nur manche der anderen in ihrer sensiblen Empathie vermuteten, nicht aber eindeutig ausmachen konnten. Dort stehend, schien die Färbung seines Hemdes kräftiger als sie war, verbarg dies Dunkel den Eindruck des verwaschenen Rots. Er steckte mal die eine und mal die andere Hand in die Hosentasche, abwechselnd also, auf der Seite der jeweils zugehörigen Körperhälfte. Ansonsten schwieg der Arm in seiner Gestik, hielt sich bedeckt oder hielt sich vor ihm fest. Die künstliche Sonne fiel in ihrem UV-losen Wesen auf den verkappten, latenten Protagonisten und das Element, das ihn umgab. Sein Blick verlor sich, wie seine Worte sich in den Wogen verloren. Er wirkte zunehmend hoffnungsloser; wieder ein Griff in eine der Hosentaschen und ein neuerlicher Auftritt einer Emser Pastille, begleitet von seinem rosa Lappen. Die ganze Zeit über schlug das Meer Wellen, nahm Anlauf, brauste auf und brauste wieder ab; kleinere ließen ihn kalt, größere machten ihn frieren, da ihm die notwendige Autorität fehlte ihnen etwas entgegenzusetzen. Es schien als könnte er darin ertrinken; immer dann: seelenvolle, unhörbare Hilferufe, die nur denjenigen eventuell hätten auffallen können, deren Blick von ihm gestreift wurde, oder erneut eine Emser Pastille, um die Glottis zu benetzen, den Rachen feucht zu halten, die Stimme nicht austrocknen, den zittrigen Kehlkopf mit Minze gegen die unbändige Gischt kämpfen zu lassen. Er geriet ungewollt in den Sog der akustischen Wogen, sie ließen ihn schwimmen; unsicher wirkte er immerfort. Er rang, immer dann, wenn seine Kraft nicht reichte die Wogen zu glätten, mit sich und der Kraft der naturgewaltigen Wellen um Aufmerksamkeit; strapazieren wollte er die Geduld beider Seiten in dieser unheillosen Aufführung nicht. Die künstliche Sonne, das Licht, schien vor ihm und über ihm noch immer auf das Meer, flutete die Reihen des Hörsaals, seine Strahlen fielen auf die studentischen Akteure und die von ihnen erzeugte Geräuschkulisse – Erbarmen; die Vorlesung, ein, zwei Atemzüge, vorbei. In der darauf folgenden Woche würde der kleine Mann wieder dort in seinem Schatten stehen und das Meer einer studentischen Geräuschkulisse seiner dezenten Persönlichkeit erneut alles abverlangen.

Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert 2005 [PDF]

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