Johann Wolfgang von Goethe (geb.: 1749, gest.: 1832) schrieb Hermann und Dorothea, eine, wie ich finde schön zu lesende Novelle, die als Topos eine ganz gewöhnliche Familiengeschichte zu erzählen versucht. Wirt und Wirtin sitzen vor ihrem Gasthaus zum goldenen Löwen und beobachten eines schönen Tages, irgendwo im Rheinland die Schaulustigen ihres eigenen Ortes, wie sie hinter einem Strom von Flüchtlingen hinterher rennen, nur um dem Leid dieser Leute als Spektakel gewahr zu werden. Gerade die Figur des Wirtes verkörpert in dieser Novelle die noch als klassisch zu bezeichnenden Werte; er strebt nach Verbesserung im Leben, die für ihn hauptsächlich durch Oberflächlichkeiten realisiert wird.
Die Familie sandte den Sohn aus, um mit der Kutsche ein paar Lebensmittel und alte Kleidung und Decken an die bedürftigen Flüchtlinge zu verteilen. Der Wirt am Ende, um sein Gewissen zu beruhigen, die Wirtin viel eher noch aus Überzeugung und gutem Willen. Jedoch, die Flur zwischen egoistischer Willkür und gutem Willen ist oft verschwindend gering. Ich möchte an dieser Stelle jedoch nicht die Figuren und deren Standpunkte differenziert darlegen um sie hernach zu befürworten oder abzulehnen. Vielmehr möchte ich versuchen zu schildern, warum ich von zuerst einer schönen, sodann von einer Familien-Novelle schreibe und zuletzt beschreiben möchte, worin ich den Sinn für Realität versteckt sehe.
Als ich das zweite Kapitel gelesen hatte, deuchte mich, ich wüsste bereits über den Ausgang der Handlung Bescheid, und richtig, so war es. So wie ich sie Kraft meiner Gedanken vorweg nahm, füge ich auch hier einen Blick in den Fortgang der Handlung ein. Während der Wirt mit dem Apotheker und dem Pfarrer in seinen Privaträumen bei einem Gläschen Wein saßen und die Herren sich unterhielten, kam der Sohn zurück und schilderte die Erlebnisse. Man spürte förmlich den Willen des jungen Hermann, die Geschehnisse kundtun zu wollen: Auf dem Weg hinter den Flüchtlingen her sei ihm ein Mädchen (Dorothea, wie man erst viel später erfahren wird) begegnet, dass eine kürzlich schwangere Frau bei sich im Wagen führte und der der junge Hermann samt und sonders alles überließ, das die Mutter ihm mit auf den Weg gegeben hatte, weil er dieses junge Fräulein für derart vernünftig hielt, dass sie vor allen anderen wissen werde, die Dinge unter den Bedürftigen zu verteilen. Die kleine Dorothea hatte es dem jungen Herrmann angetan, er hatte sich verliebt. Doch das soll der Leser erst ein wenig später erfahren. Bei Erwähnung dieses Mädchens nämlich, hakte der Vater ein, der seinen eigenen Wunsch erneuerte, Hermann möge sich doch eine Frau suchen und sie ehelichen, anstatt sich von der Jugend seiner Zeit fernzuhalten und sich schüchtern und still immer aus den Dingen der anderen rauszuhalten. Ignoranz, die aus den Worten des Vaters spricht, wie wenig später der gute Hermann der Mutter unter einem Birnbaum am Rande der eigenen Felder zu erzählen weiß. Doch noch ehe es zu dieser Auflösung kommen wird, noch ehe sich die vielen Missverständnisse, die bereits bestehen auflösen könnten, und noch ehe sich neue hinzugesellen würden, erklärte der Vater vor allen Anwesenden, dass er sich keine Bauerstochter, sondern das Mädchen eines Handelsmannes wünsche, und nahm dem jungen Hermann auseinander, wie wichtig doch die Verbesserung des eigenen Wohlergehens mittels ökonomischer Güter anzustreben sei. In die ganze Erzählung hinein hatte die Mutter vorab noch das Kennenlernen Hermanns eigener Eltern geschildert, das, wiederum so gegen alles spricht, was der Vater dann so von sich gibt. Zwischen Trümmern der Häuser, nach einem Brand der die Stadt verwüstete, hatte der Vater spontan um die Hand seiner heutigen Frau und Hermanns jetziger Mutter angehalten. So gar nicht auf Stil und Äußerlichkeiten Wert legend. Die Geschichte entwickelt sich, und Goethe vermag es, eine Episode an die nächste zu fügen, damit das Telos nicht sofort erreicht wird und die Kurzweil nicht den Sieg davon tragen würde – und am Ende kriegen sie sich doch! Muss man sagen. Die Novelle ist schön zu lesen und wird, wie ich später auflese gegen Ende noch weitaus schöner.
Das Topos, das Motiv der Erzählung mag man als Beschreibung von Familienverhältnissen empfinden, denen an mancher Stelle, vielleicht nicht gar so oft, und häufiger durch den Leser, als durch den Text selber, der gesellschaftliche Spiegel vorgehalten wird. Welche Aufgabe hat Familie, wie verhält es sich als Teil der Familie und wie verhält sich die Familie gegenüber der Gesellschaft? Sie tritt als ein geschlossenes Ganzes auf, dass jedes Mitglied zu schützen versucht, so gut es eben geht. Dabei ist der Vater, wie in so vielen zeitgenössischen Geschichten und wohl auch im wirklichen Leben der damaligen Zeit in doppelter Funktion aufgetreten. Zuerst mag er die Geschicke der Familie lenken, als Oberhaupt ist er darauf erpicht, dass alles sich zum Guten wendet. Doch am Ende ist er auch Träger einer gesellschaftlichen Position, die ihn dazu verpflichtet, Haltung anzunehmen, Normen zu verkörpern und so steht er am Ende in dieser doppelten Funktion im Zwiespalt mit den gesellschaftlichen Aufgaben, die ihm obliegen und denen, die er in der Familie zu erfüllen hat. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese Schilderung sich aus dem Gelesenen ergibt und ganz neutral auch auf historischen Gegebenheiten beruht und eben nicht subjektiv antifeministisch auftritt.
Hermann und Dorothea kriegen sich, allen Widerständen und Gepflogenheiten zum Trotz, und derart widerstandsreich und garstig stellt sich ihnen das Schicksal gar nicht in den Weg. Ein einziges Mal hat man das Gefühl, dass Hermann sich vielleicht selbst mit seiner Schüchternheit im Wege steht, doch auch diese Hürde wird schließlich genommen. Das Finale ist, ähnlich wie bei Heinrich von Kleists “Die Marquise von O…” durch eine Art Gleichnis daran gehindert, wie ein einfaches Happyend wirken zu können. Die gute Dorothea war bereits zuvor verheiratet und als der Pfarrer sie und Hermann symbolisch mit den Ringen von Hermanns Eltern verloben wollte und am Ende auch verlobte, fiel sofort ins Auge, dass Dorothea zuvor schon ein Mal verheiratet gewesen sein muss. Was an dieser Stelle folgt ist der Teil, der über alle Maßen realistisch und nicht kitschig wirkt und der vor allem zeitlos ist und mehr zu denken gibt, als man Zeit gebraucht hat, Goethes Erzählung zuvor zu lesen. Dorothea entledigt sich des Ringes, nicht aber ohne von ihrem verblichenen Manne Abschied zu nehmen und mehr noch als eine Rede auf einen Toten, so doch eine Rede auf einen zutiefst geliebten Menschen zu halten, dem sie nach seinem Ableben eröffnet, dass es vielleicht irgendwann ein Mal vielleicht sogar ein Wiedersehen geben wird, unter welchen Voraussetzungen auch immer. Diese Schilderung lässt tief blicken, nicht nur in die Seele der Figur oder des Autors, sondern auch in die eigene. Man wird unmittelbar konfrontiert, wenn man ein Mal schon ein Liebender gewesen ist, mit Freud und Leid, dass man erlebte, mit der eigenen Unzulänglichkeit, aber auch mit den eigenen Ängsten und Hoffnungen. Auch aus diesem Grund ist Hermann und Dorothea am Ende eine schöne Familiennovelle.