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Bankräuber, verkappte Massenmörder und Pyromanen

Drei Jahre vor dem Roman Der fernste Ort veröffentlichte Daniel Kehlmann eine Sammlung von Erzählungen. Unter dem Titel Unter der Sonne, erschienen 1998, nebst einer gleichnamigen Geschichte, noch sieben weitere Kurzgeschichten Kehlmanns. Bereits durch den Roman vor einer verfrühten Beurteilung gefeit, las ich zunächst alle acht Geschichten, ehe ich mir ein Urteil erlauben wollte. Der Titel meines Artikels deutet es an, es geht mitunter um sehr abstruse Charaktere, die Kehlmann in seinen kurzen Geschichten skizziert. Bevor ich mich den einzelnen Geschichten en Detail zuwende, schicke ich eine umfassende Bewertung voraus, die da lautet: Durchwachsen. Neben den dunklen Figuren, gab es auch einige lichtere. Jedoch die wenigsten davon wurden mir sympathisch, und auch, wenn sie das nicht sollten, so waren es manchmal sogar die ganzen Geschichten, mit denen ich nicht warm wurde.

Bankraub

Zum Einstieg gönnte Kehlmann uns einen normalsterblichen Erdbewohner, in dem schon immer vermeintlich kriminelle Energie schlummerte. Die Betonung soll hier auf dem Wort vermeintlich liegen. Auf siebzehn Seiten breitet Kehlmann in seinem gewohnten Sprachstil Markus Mehrings Leben vor dem Leser aus. Es beläuft sich in der Summe sogar nur auf wenig mehr als einen Tag, wenn ich mich recht erinnere. Ein Tag aus dem Leben des Markus Mehring. Vielleicht endet einer, und ein neuer beginnt. Das Problem, das ich mit dieser Geschichte hatte, sie erinnerte mich sehr stark an die Erzählung “Der fernste Ort”. Gerade das, was ein Rezensent ein besonders gelungenes Vexierspiel nannte, nämlich Kehlmanns Roman aus 2001, trägt offensichtlich in dieser Erzählung vom Bankräuber Markus Mehring seinen Ursprung. Ein Indiz deutet sogar darauf hin, gibt es doch in dieser Geschichte einen Mitarbeiter Mehrings, Wöllner, der ebenfalls in dem Roman eine Rolle spielt.
Ich finde die Geschichte… gut. Aber das liegt daran, dass ich den Roman gut fand. Hätte ich die Geschichte zuerst gelesen, hätte ich bei dem Roman bereits gewusst, worauf es ankommt. Umgekehrt wusste ich nun, da ich den Roman bereits kannte, worauf ich beim Lesen der Geschichte Obacht zu geben hatte. Als Element der Spannung gestaltet Kehlmann das Ende offen. Die Geschichte könnte noch weitergehen. Würde jemand sie zuerst lesen, wüsste er nicht unbedingt auf Anhieb, wie genau sie enden könnte. Die Romanlektüre verschaffte mir in diesem Fall jedoch, wie auch bei manch anderen Geschichten, den sprichwörtlichen Durchblick. Wer wissen möchte, warum und wie ein dahergelaufener, wenig mehr als durchschnittlicher Otto-Normal-Bürger zum Bankräuber wird, der sollte sich die Geschichte zu Gemüte führen.

Sprachlich ist Markus Mehrings Erlebnis eines Bankraubs nicht mehr sehr erquickend, wenn man andere Bücher Kehlmanns kennt. Die ganze Anthologie von Kurzgeschichten ist im übrigen so etwas wie ein Wörterbuch für Kehlmannsche Belletristik. Das Sammelsurium an Kurzgeschichten bildet eine Art Produktionsmenge, aus der man mit ein wenig Wechselspiel die gesamte Bandbreite Kehlmanns ausloten kann. Zumindest geht es mir derzeit so. Die Lektüre an einem weiteren Roman von Herrn K. habe ich bereits begonnen, und sie wird eventuell mehr Aufschluss bieten können, ob meine jetzige Empfindung von der limitierten Breite im Spektrum Kehlmannscher Erzählkunst, auf Dauer Bestand haben kann.

Töten

An dieser Stelle sei vielleicht vorweg noch erwähnt, dass alle Figuren in den Geschichten gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Allesamt erleben sie einen Augenblick, der, wie es scheint, ihr Leben verändern könnte. In manchen Fällen ist dem wohl auch so. Ebenso sind alle Protagonisten männlich.

Die tragende Rolle in dieser kurzen, siebenseitigen Erzählung spielt ein kleiner, wohl vierzehnjähriger Junge, von dem die Welt noch nicht ahnt, wie viel Potential in ihm steckt. Die beschriebene Szenerie wirkt ein wenig amerikanisch. Zumindest erinnert mich diese namenlose Topographie, die Kehlmann hier vor dem geistigen Auge des Lesers erstellt, an die Ausläufer einer amerikanischen Vorstadt. Ebenso wie Markus Mehring, ist der Protagonist in diesem Fall kein Einzelkind. Beide haben eine Schwester. Julian, der zentrale Charakter in “Der fernste Ort” hingegen verfügt über einen Bruder. Auffallend, die Ähnlichkeiten.
Der Junge bleibt dem Leser gegenüber namenlos, wird ihm nicht vorgestellt. Man könnte denken, Kehlmann beginnt in medias res, wenn er zuerst von einem Hund schreibt, dem Nachbarshund, mit dem angeblich nicht gut Kirschen essen ist, vor dem sich der Junge fürchtet. Ein Hund der kläfft und, wenn er die Kiefer weitet, mit den Zähnen fletscht. Kehlmann will ablenken, will in die Irre führen. ähnlich geschieht dies, wenn er aus der Perspektive des Jungen von der Schwester schreibt, oder den Schatten eines Mannes vor dem Wohnzimmerfenster beschreibt. Die Stimmung ist gedrückt, das Wetter hingegen drückend, trocken. Aus der Langeweile entspringt ein Impuls, der den Jungen vors Haus laufen lässt, am Nachbarszaun vorbei, ständig in Angst, der Hund könnte ihm auflauern, könnte irgendwie auf die andere Seite des Zaunes gelangen.
Doch die entscheidenden Dinge ergeben sich erst hernach. Der 14-jährige Protagonist findet auf dem Weg einen großen, strahlend-roten Ziegelstein, den er mit sich fortträgt und auf einer Brücke die Zeit bis zum Mittagessen rumlungert. Er beobachtet unter der Brücke durchfahrende Autos, stellt mit Freude fest, dass um ihn herum wenig geschieht, dass es keine Leute um ihn herum gibt, deren Aufmerksamkeit er auf sich lenken könnte. Dann geschieht etwas, auf das Kehlmann die ganze Zeit hingearbeitet hat, dass der Protagonist in einer jugendlich undeutlichen Ahnung erst selbst kurz zuvor angedeutet sah. Vielleicht wird der Leser an dieser Stelle mit Entsetzen reagieren. Doch Kehlmann tut ihm nicht den Gefallen, dass er sein Urteil von dort an fällen könnte. Er hält auf den wenigen Seiten die Spannung hoch. Er lässt noch kein Urteil zu, denn er möchte dem Leser (Geschworenen) erst eine weitere berechnende Facette des Jungen präsentieren. Abrunden wird Kehlmann dies am Ende sogar mit einem in die Zukunft blickenden Gedankenfluss des Hauptakteurs, der den Vorhang noch weiter zu zieht, die Szene noch dunkler werden lässt. Am Ende steht ein leichtes Entsetzen, das ein größeres hätte sein können, wenn Kehlmann der Geschichte mehr Raum als nur sieben Seiten geboten hätte. Alles in allem zählte diese Erzählung jedoch zu den besseren aus dieser Anthologie.

Unter der Sonne

Auf den nächsten 20 Seiten breitet Daniel Kehlmann die Geschichte eines leidgeplagten studierten, bereits habilitierten Akademikers aus. Natürlich erfahren wir vom beruflichen Werdegang desjenigen, der uns als Zugfahrender zuerst unterkommt, erst Stück für Stück. Bemitleidenswert soll Kramer, so heißt er, sein. Er wird es nicht. In meinen Augen verfehlt diese Geschichte nämlich ihr Pathos. Sie endet mit Tränen des Protagonisten. Mitleid habe ich nicht empfunden, gleichwohl ich in vielen anderen Situationen, dank meiner Empathie, sehr einfühlsam sein kann. Etliche Romane oder aber Filme haben mich schon zu Tränen gerührt, oder zumindest innerlich bewegt. Diese Geschichte vermag es nicht. Nicht auf 20 Seiten, und nicht in 100 Jahren. Das wird an der Thematik liegen, die mir zu fremd ist. Ich kann die Wichtigkeit darin nicht erkennen, kann nicht verstehen, wie jemand es so sehr als Strafe empfindet, wenn sich ein anderer, von dem er es gerne möchte, ihm Zeit seines Lebens nicht zuwendet.

Darüber allerdings hat Kramer nicht das Weinen angefangen, diese Augenblicke der Ignoranz durch die Koryphäe, über die er eine wissenschaftliche Arbeit verfasst hat, die bis hierhin einen Gutteil seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit bestimmt hat. Kramer ist die persona non grata, und er bleibt es. Gepeinigt vom Hexenschuss macht er sich auf, während dem bisschen Freizeit, das ihm als Mitreisender des Chefs auf eine Konferenz nach Paris bleibt, um in einem Vorort nach dem Grab der Person zu sehen, die ihn zeitlebens nicht registrierte. Zwei Briefe hatte er als Student an Bonvard geschickt, irgendwann gelesen, dass dieser einen Sekretär angestellt hätte, der sich um die Post kümmert, und vermutet, dass er deshalb keine Antwort erhalten würde. Bewaffnet mit Hexenschuss und Fotoapparat, möchte Kramer eine Fotographie von der Grabstelle erzeugen. Sie soll in ein Design für einen Buchumschlag eines neuerlichen Projektes eingearbeitet werden. Wenig bewandert in der französischen Sprache, wandert er orientierungslos umher, fragt an einigen Stellen und landet auf dem falschen Friedhof. In einen anderen Vorort hätte er gemusst. Am Bahnsteig, bald schon keine Zeit mehr habend, setzt er sich unglücklicherweise in einen Schnellzug nach Paris, und nicht, wie er gedacht hat, in die Bummelbahn, die den Vorort noch rechtzeitig erreichen könnte. Vor dem Schaffner, der ihm sein Missgeschick im fahrenden Zug auseinander nimmt, beginnt Kramer das Weinen.

Auflösung

Eine kurze, kleine, komische Geschichte bringt uns das Leben einer Figur nahe, wie sie, dem Titel gleich, unter Auflösungserscheinungen leidet. ähnlich wie der Protagonist Julian in “Der fernste Ort”, oder andere Figuren von Kehlmann, birgt auch diese hier eine Distanz zum Normalen. So bürgerlich und gewöhnlich die Figuren auch scheinen sollen, nach außen wirken, ihre Innenwelt steht stets in einigen, wenn nicht gar vielen Punkten der äußeren Welt konfligierend gegenüber. Wir erfahren von einer langweiligen Periode, in der dieser Mann einige Male den Beruf wechselt, bis er vom Leben genug zu haben scheint. Er kommt nur noch unpünktlich zur Arbeit, wird immer unpünktlicher, geht irgendwann überhaupt nicht mehr hin. Holt all sein Geld von der Bank, geht nicht mehr arbeiten. Nur noch einkaufen, minimiert den Stapel an Banknoten, die er daheim hat, bis er keine mehr hat. Kriegt ein wenig Kredit im Lebensmittelladen, und wird, weil die Inhaberin sorgenvoll aufmerksam ist, irgendwann von Amts wegen in eine Psychiatrie eingewiesen. Wenig geschieht, und irgendwann stirbt er. Kein großes, aber auch kein kleines Meisterwerk, wie ich finde.

Pyr

Dem Leser wird in dieser Geschichte ein Pyromane vorgestellt. D. h., er stellt sich uns selbst vor. Wir werden angesprochen von einem unbekannten ich, dass uns herausfordert, weil es uns wissen machen will, dass es ihn wirklich gibt, wir aber wahrscheinlich eh nicht an ihn glauben wollen. Nicht gänzlich unterschiedlich zu dem Konflikt der in Max Frischs “Biedermann und die Brandstifter” geschildert wird. Unsere Ungläubigkeit hat irgendwo ihren Ursprung, nur wir wissen nicht wo. Einerlei, denn wichtig ist wohl nicht, ob wir diesem fiktiven Erzähler seine Geschichte abkaufen oder nicht, sondern, dass diese Geschichte, in meinen Augen, zu den schlechtesten in dieser Anthologie gehört. Als kleiner Junge habe ich auch mit Feuer gespielt, und trotz allem gelingt es dem Ich-Erzähler nicht, mich für seine Feuerfanatik zu gewinnen. Gleichwohl versucht er es immer wieder und nervt am Ende mehr, als dass er es schafft, dass ich mich einfühle in sein gedankliches Konstrukt.

Der Leser findet in meiner Ausgabe aus dem Suhrkamp-Verlag, auf den Seiten dieser Geschichte sogar den ersten Rechtschreibfehler. Vielleicht befriedigt ihn das. Vielleicht gibt es aber auch zu viele versteckte Hinweise, denen ich nicht nachgehen kann, weil ich die Symbolik nicht richtig deuten kann, sofern es sie gibt. Vielleicht sind mir die Register zu fremd, aus denen der Protagonist an dieser Stelle schöpft. Vielleicht ist es aber auch wirklich nur eine wenig ausgewogene Erzählung, die am Duktus ihres Protagonisten krankt, und mit der Kraft der Überzeugung, die sie versucht auszustrahlen, und die sie zu lange versucht auszuhalten – vielleicht also erzeugt das beim Leser Langeweile.

Kritik

Wenn man sich der nächsten Kurzgeschichte annimmt, könnte man denken, dass Kehlmann diese Szene aus einem Sketch Loriots adaptiert hat. Ob dem so ist, kann ich nicht bezeugen. Ein unbestimmter Schauspieler mit Flugangst reist zu einem geschäftlich anberaumten Treffen. Sein Sitznachbar entpuppt sich als Kritiker. Kein Kritiker von Berufs wegen, nein, sondern wohl nur ein “Normalsterblicher”, der sich auf den Schlips getreten fühlte, weil Wagenbach seine Ruhe haben wollte, und nicht nach der Aufmerksamkeit anderer verlangte. Ein wenig in seiner bebauchten Seele, hinter einer Tageszeitung versteckend, gekränkt, bläst der Unbekannte, nicht verwandte zum Angriff. Er sendet verbale Sticheleien in Richtung Wagenbachs aus, und macht diesen unnötig nervös. Als Leser bekommt man das Gefühl, dass die Flugangst Wagenbachs exponentiell mit den nicht enden wollenden Bemerkungen seines Sitznachbarn wachsen würde. Noch viel eher, als mit dem Pyromanen aus der Geschichte davor, kann man sich in die Situation und in beide Personen herein versetzen. Gleichwie wird einem der Kritiker unsympathisch, und wir werden auf die Seite Wagenbachs gezogen. Mein Fazit: Eine der besseren Geschichten in diesem Erzählungenband.

Fastenzeit

Sein Arzt hatte ihn gewarnt, er möge keinen Unsinn treiben. Er sei zu dick, hatte er gesagt. Das hatte ihn geärgert, und trotzig, gekränkt, wenig auf Hilfe von außen schielend, hatte er sich unsinnig verhalten (wollen). 15 Kilo sollte er abnehmen, am Ende hatte er nur 11 Kilo abgenommen. Den Weg vom Anfang bis zum Ende möchte ich dem Leser nicht vorwegnehmen, sondern ihm die Möglichkeit lassen, die Geschichte selbst zu lesen. Sie gehört deswegen wohl zu den besseren in dieser Sammlung. Merkwürdig ist, dass der Protagonist ein wenig an den aus der Geschichte Auflösung erinnert, aber eben auch an Julian aus “Der fernste Ort”. Prinzipiell ähneln sich die Figuren alle. Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Das mag vielleicht jeder für sich selbst beurteilen.

Schnee

Endlich komme ich zur letzten Geschichte. Ich muss zugeben, dass es mir zu lange vorkam – die Zeit, die ich mit dem Aufschreiben über die Erzählungen eines anderen verbringe. Wenn sie mich sonderlich gereizt hätten. Aber ganz am Anfang meiner Ausführungen erwähnte ich bereits, dass die Geschichten in der Summe nur einen durchwachsenen Eindruck auf mich machten. Durchwachsen wirkte gegen Ende der Lektüre auch die letzte Geschichte Schnee auf mich. Ein Teilnehmer einer Konferenz begibt sich, trotz Schneesturms, auf den Heimweg. Nicht zu Fuß, sondern in seinem fahrbaren Untersatz. Allein, die Straßen sind verschneit, das Chaos lebt, das Leben pulsiert nicht, es steht, man kommt nicht weiter. Ob der Protagonist zu Hause ankommt, und ob er jemals an der Konferenz teilgenommen hat, wird mir nach einmaligem Lesen nicht ersichtlich. Wiederum verwendet Kehlmann Techniken, die er andernorts bereits benutze, um den Leser in ein Verwirrspiel zu lenken.

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