Kapitel 23 Goethe in Christa Bürgers Buch Mein Weg durch die Literaturwissenschaft lässt zumindest erahnen, dass das Selbstverständnis Goethes nicht gerade emanzipiert und ohne Angst gegenüber dem anderen Geschlecht geformt gewesen sein muss. Interessant ist, dass Bürger dieses Kapitel zunächst mit dem Verweis auf einen eigenen Aufsatz beginnt, in dem der
“Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar” (S. 189, Hervorhebung entfernt)
behandelt wird. Sie nennt es eine Projektarbeit aus den 1970ern und erklärt, dass sie in dieser Ausarbeitung
“den Funktionswandel der Literatur an der Wende zum 19. Jahrhundert von der Aufklärung zur Kunstautonomie” (ebd.)
nachzuweisen gewillt war. Der Gedanke der Kunstautonomie wird das ganze Kapitel hindurch nicht fallen gelassen, erhält aber eine neue Nuance, als Bürger eine Verbindung von Autonomie und Geschlechterverhältnis zu beschreiben beginnt. Es ist dies auch der Punkt, wo in ihrem Buch fortan der Aspekt des Geschlechterverhältnisses stärker ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken wird. Bürger entlarvt Goethe als einen unmodernen Menschen, der nicht nur aus Frankfurt nach Weimar gezogen ist und den Weg des modernen, weltlichen Denkens damit verließ und sich selbst in die Abhängigkeit eines Mäzen, der er am Weimarer Hof gefunden zu haben schien, begab. Mit dieser Entscheidung schien alles verschwunden zu sein, was Bürger ideologisch im Urfaust gesehen zu haben glaubte.
Zuvor jedoch noch der Hinweis darauf, dass Bürger, obgleich sie Goethe an den Anfang dieser Zeit stellt, die Sicherheit spendende Religion in dieser Zeit eigentlich bereits durch den Markt abgelöst wähnt. Eigentlich deshalb, da die reale Situation Goethes noch lange nicht dorthin entwickelt schien. Zur Erklärung:
“In den religiösen Weltbildern, das ist unmittelbar einleuchtend, sind Antworten enthalten auf die drängenden Fragen des menschlichen Daseins: Gerechtigkeit, Freiheit, aber auch Angst, Gewalt und Unterdrückung, Elend und Tod. […] Der Markt war die neue, rationale Legitimation von Herrschaft: die Gerechtigkeit der Äquivalenz von Tauschbeziehungen” (S. 192).
Für mein Bild über Goethe werden aber einige Punkte notwendig sein, die Bürger dann im Folgenden anführt. Zunächst schreibt sie vom Verrat Goethes an seiner eigenen Schwester und zitiert einen Brief Goethes an selbige. Aus der zitierten Stelle geht Goethes Frauenbild unmittelbar hervor.
An dieser Stelle folgt ein etwas längeres Zitat, dass auch Auszüge aus Goethes Brief enthält, es soll der Verdeutlichung dienen, kann aber von Eiligen überlesen werden.
“Der erste Verrat Goethes ist der an der Schwester Cornelia, der Spiel- und Lerngefährtin seiner Kinderzeit. Cornelia erhält annäherungsweise (mit stärkerer Betonung der Musik) dieselbe Ausbildung wie der Bruder, aber als dieser als Student nach Leipzig geht, stellt er die Ordnung der Geschlechter wieder her: Die Schwester sage, schreibt er, manchmal Dinge, ‘die ich mit all meiner Mädgenkänntniß nicht debrouillieren kann, wie sie ein Mädchen sagen kann’, sie soll daher weniger lesen, und nur, was der Bruder ihr vorschreibt, nur Briefe soll sie schreiben, nichts anderes; sie soll die Haushaltung und die Kochkunst ‘studieren’, sich im Tanzen perfektionieren und sich mit Geschmack ‘putzen’. ‘Wirst du nun dieses alles, nach meiner Vorschrift [!], gethan haben, wenn ich nach Hause komme, so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen Jahre, das vernünftigste, artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen’ sein (12.-14. Oktober 1767)” (S. 194f.).
Doch damit noch nicht genug. Als major domus am Weimarer Hof hätte Goethe nachweisbar in einem Fall die Möglichkeit gehabt, eine alleinerziehende Mutter, die der Vater ihres Kindes in ärmlichen Verhältnissen zurückgelassen hatte, für den Mord an ihrem Kind zumindest vom Urteil der Todesstrafe freizusprechen; er hat dies nicht getan (vgl. S. 203). Ganz zu Beginn des längeren Zitatabschnitts stand von einem ersten Verrat geschrieben. Dies impliziert einen zweiten, wenn nicht gar noch weitere. Der zweite, und dies ist der letzte, den Bürger Goethe noch ankreidet, hat mit dem Aspekt der Entfremdung zu tun, der sich in dem Urteil des gebildeten Mannes im Fall der Kindsmörderin widerspiegelt. Goethe lag viel an der Autonomie der Kunst, und dabei vergaß er den Bezug zur Lebenswirklichkeit. Bürger gibt selbst zu: Ich
“hab sehr lange gebraucht, um zu begreifen, daß die Autonomiesetzung der Literatur etwas zu tun hat mit der Ideologie des Geschlechterunterschieds” (S. 199).
In gewisser Weise interpretiert Bürger diese Entwirklichung, diese Autonomiesetzung als eine Flucht vor den Ängsten der Schreibenden, hier in persona J. W. v. Goethes, vor der Emanzipation der Frau. Jedenfalls ist dies meine Interpretation der in dem Kapitel geschilderten Bürgerschen Sichtweise. 🙂 Es gäbe noch über den Unterschied zwischen der Figur des Gretchens im Faust und der Iphigenie zu schreiben, doch dies ist nicht gar so eminent, wie das bis hierhin bereits Geschilderte.
Bürger, Christa, 2003: Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. - Frankfurt am Main: Suhrkamp. (=es 2312); hier Kapitel 22. Reisen, S. 189-207.