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Auer contra Brecht: Warum Episches Theater nicht funktionieren kann?

Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Episches Theater nach dem Vorbild von Bertold Brecht nicht funktionieren kann, kommt aus dem Bereich der Soziolinguistik und Psychologie.

Kontextualisierung

Mitte bis Ende der 1970er Jahre entwickelten in diesem Forschungsbereich die Eheleute Gumperz den Begriff der Kontextualisierung. Anders als der in der Linguistik bis dahin angenommene Begriff des Kontexts, ist dieser situativ revidierbar und zudem dynamisch. Gumperz’ stellen sich eine Gesprächssituation derart vor, dass ein Kontextualisierungsverfahren etwaige Hinweise mit Schemata verknüpft.
Der Begriff des Schemas stammt ursprünglich aus der Psychologie und ist die Vorstellung einer Organisationseinheit in unserem Gehirn. Natürlich nicht als biologische Einheit, sondern als die Gedanken oder den Denkprozess strukturierende Einheit. Demnach eine gänzlich andere Dimension.

Unter den Kontextualisierungshinweisen nun versteht man Dinge wie Kinetik und Proxemik, Prosodie u. a. m. Man versteht darunter Elemente wie Gestik und Mimik. Gerade das allerdings ist der Hinweis auf Brechts Episches Theater. Ein Element seiner Konzeption von Theater war die aus dem asiatischen und russischen Theater entlehnte und ausgearbeitete Form des Gestenspiels.

In einem Aufsatz über das Konzept der Kontextualisierung von Peter Auer aus 1986 gibt es folgende Stelle, die sich prima auf diesen Kontext anwenden lässt:

“Kein Kontextualisierungshinweis hat eine ‘inhärente’ Bedeutung, die ein für allemal festliegt und seine Interpretation bestimmt. Vielmehr sind die einzelnen Kontextualisierungshinweise flexibel, d. h. für eine Vielzahl von Funktionen einsetzbar. Eine ein(ein)deutige Zuordnung von Kontextualisierungshinweisen zu Schemata ist nicht möglich.”
S. 26

Gesten mit variabler Bedeutung?

Im Klartext bedeutet dies, dass Gesten nicht eindeutig bestimmbar sind, vielmehr variabel in ihrer Bedeutung. Brecht hat jedoch genau das Gegenteil gefordert und zumindest gedacht, er könnte das Geforderte auch erreichen. Das zieht natürlich nicht Brechts komplette dramaturgische Arbeit in Misskredit, sorgt aber sehr wohl für ein erhellendes Moment, wenn man die Rezeptionsgeschichte des dramatischen Werks Brechts berücksichtigt.

Dieser Ansatzpunkt bietet die Möglichkeit, Literatursoziologie im weiteren Sinne zu betreiben. Es wäre vorstellbar, einen Bogen zu schlagen zwischen der Unvereinbarkeit von intendierter Bedeutung einerseits und der variablen Rezeption der jeweils angewandten Gesten andererseits. Material für Studien müsste in Form von empirischem Material vorliegen oder aber in Bildmaterial, das Zuschauer im Prozess der Rezeption zeigt. Letzteres würde qualitative Forschungsaussagen ermöglichen. Ersteres ist auf den Bereich der bloßen Zuschauerzahlen beschränkt und könnte anhand der Wirkung, die die einzelnen Stücke Brechts zeitigten, nurmehr nachträglich herausstellen, das man in dem Punkt variabler Kontextualisierungshinweise ein Indiz für Missverständnisse im Dialog zwischen Regisseur, Dramaturg, Literat, Schauspieler und dem Publikum gefunden hätte.

Aktive empirische Forschung müsste Versuchsanordnungen gestalten und Brechts Stücke nach dem Muster alter Aufführungen an Versuchsgruppen ausprobieren und deren Reaktionen aufzeichnen und auswerten.

Literatur: Peter Auer (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47.

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