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Wohl und Wehe

Auf, auf und davon. Bist du noch nicht fort? Nun geh, geh schon. Lass uns, lass mich in Ruh. Schick dich fort von hier. Aus Livland ist Jakob Michael Reinhold Lenz damals freiwillig, fast sehnsüchtig aufgebrochen auf der Suche nach Neuem, Unbekanntem. Geflohen ist er vor seinem Vater und vor sich selbst. Sigrid Damm lässt uns in den Kapiteln 2, 3 und 4 weitere Stationen des Lebens von Lenz nachempfinden. Natürlich auf eine Art und Weise, wie sie nicht immer den Tatsachen entspricht. Sie bemüht sich um Authetizität, nimmt immer wieder den Faden von Schriftstücken auf, die überliefert sind, und zeichnet den Weg nach, den Lenz gegangen sein könnte. Mit dem Ende vom ersten Kapitel, steht Lenz in jugendlicher Blüte. Am Ende des vierten Kapitels wird er seinen Höhepunkt bereits überschritten haben.

Die Lektüre zieht sich, und dennoch empfinde ich sie als wichtig. Wichtig für die Prüfung, ja, das auch. Aber auch wichtig für mich. Sigrid Damms Buch ist ein Hort von Ideen, gesammelt, zusammengetragen, damit ich davon Notiz nehmen kann. Es ist wahr, am Ende schreibt sie mir zu lang, ist es mir zu fad, und am Ende interessiert es mich doch. Zu wertvoll sind die Dinge, die man mittendrin aufschnappt. Zu wertvoll sind mir die Dinge, auf die ich immer wieder Stoße. Der Schnitt des Buches sieht, stellte man es geschlossen ins Regal… er gleicht einer Plantage von Markierungsstreifen. So viele, wie schon lange nicht mehr. Selten konnte ich so viel Selektion betreiben. Doch, ach, es liegt nicht an der Autorin, nicht an ihrem Roman. Sie schreibt ganz passabel am Ende, ja. Aber noch ist es nicht zu Ende. Erst sind 4 Kapitel gelesen und trotz allem schon knappe 300 Seiten erreicht. Was mich dazu treibt, es ist persönlich. Es ist das Verständnis für den Dichter JMR Lenz, das ich aufbringe. Nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern, weil ich ihn verstehen kann. Weil ich bereits beim ersten Kontakt mit seinen Werken und seiner Vita spürte, dass dort etwas im Gleichklang verborgen liegt. Etwas, das es sich zu bergen lohnen würde, und ja: Es lohnt sich! Oft sind es gerade die zitierten Fetzen aus Briefen und Tagebucheinträgen, Zettelchen und Notizen, die eine eigene Spannung für mich erzeugen, fernab von jener, die Frau Damm in meinen Augen nicht zu produzieren weiß. Es sind nicht ihre Worte, die mich fesseln, es sind Lenzens Worte.

Ich empfinde denselben Verdruss über Goethe, spüre nur zu schmerzlich, wie Leute sich einer fremden Sache wegen biegen. Lenz war dazu nicht in der Lage. Er hat gewiss auch aus Gefälligkeit gehandelt, manches Mal, und versucht, mit seiner Meinung hinterm Berg zu halten, aus Rücksicht auf die gedachten Freunde. Wie schmerzhaft muss die Erkenntnis gewesen sein, als er erkannte, dass der Mann, zu dem er am meisten aufschaute, und den alle Welt schon damals und noch heute für den größten deutschen Dichter hält – wie groß muss der Verdruss gewesen sein, als dieser Goethe sich als Opportunist entpuppte, als Fähnchen im Wind, das aus Eifersucht und Konkurrenz nicht für die Sache einstand, nicht zu Lenz hielt, am Ende nur ein müdes Lächeln über eine Jahre währende Freundschaft legte, gefolgt von einem Schweigen. Kein gewöhnliches Schweigen, ein erzwungenes. Goethe, der den Hof von Weimar verbog, seine Macht einzusetzen verstand und keine Widerrede zuließ, wenngleich sich genug Fürsprecher für den aus ärmlicheren, bürgerlichen Verhältnissen stammenden Jakob fanden. Dies alles ist der traurige Zenit, an den Lenz sich herangerobbt hat, und den er Ende 1776 nicht mehr einnimmt, nicht mehr einnehmen darf.

Nie hat dieser Lenz aufbegehrt, immer hat er sein Licht unter den Scheffel gestellt. Immer war er den anderen zu vorschnell, oft hat er sie durchschaut, nur sich nicht getraut. Er spielte ihre Spiele, weil er stoisch hoffte, so lange er es eben aushielt, am Ende als Sieger vom Platz zu gehen. Dabei stand er nie im Kampf, wollte er nicht gewinnen. Er wollte die Welt verändern, gemeinsam, mit den Freunden seiner Tage. Er blieb auf der Strecke. Mut, für die Wahrheit und Gerechtigkeit den Kopf hinzuhalten, den hatte er, und das nahm Goethe ihm krumm, genauso wie Lenz es jenem verübelte, dass er mit dem Vertrauen anderer Leute spielte, mit dem Vertrauen von Frauen, die Goethe vorgab zu lieben, in die Lenz sich verliebte, zu denen er aber keinen Zugang finden konnte, weil er für die Damen nur Randfigur war, eben ein Lenz und kein Goethe. Aber sie erkannten, dass er gut war, dass er ein Guter war, und wenn dies am Ende nur an der Oberfläche geschah und nicht genutzt hat, so steht es doch als Zeugnis dar, so zeigt es, dass manche ihn gemocht haben, und andere sich am Ende nicht mehr getraut haben, ihn im Stich ließen, weil sie lieber dem eigenen Vorteil zu Diensten verpflichtet sein wollten, als einem einfachen Guten, den manche von ihnen naiv nannten, nur weil er ihren Dünkel abtat und nicht nachempfand, nur weil er sich nicht damit abfinden wollte, nur für sich selbst zu handeln, sein Wohl zu suchen, es zu mästen, es zu schlachten, sich daran zu laben und am Ende nichts weiter davon gehabt zu haben. Lenz dachte für die Welt, und er dachte gut von der Welt.

Natürlich erzählt Sigrid Damm die ganze Geschichte bis hierhin, bis zu diesem traurigen, verstimmten, missmutigen Ausgangspunkt. Denn noch, ist Lenzens Reise nicht zu Ende. Noch streift er umher, noch wird er Spielball sein, noch haben sie ihn nicht gänzlich seiner Welt entrückt. Es gibt Episoden, die Zeit in Weimar, auch glückliche Momente. Die Zeit davor, in Straßburg, als er sich mit den Gebrüdern von Kleist auf Reisen begab, als ihr Reisebegleiter, für Kost und Logis. Als er sich abhängig machte von der Willkür anderer, damit er fort konnte von daheim, wo es ihm nicht gefiel, wo sie ihn nicht zu sich selbst finden lassen wollten, und wo er nicht er selbst sein konnte. Doch immer wieder wird ihn dieses Gefühl beschleichen, wird es ihm begegnen. Immer wieder wird Jakob Michael Reinhold Lenz merken, wie er nicht er selbst sein kann, wie ihm die Welt um ihn herum mehr und mehr verdrießt und es ausnutzt, dass er so wenig selbstbewusst ist, dass er sich nicht traut zu fordern, sondern gelernt hat zu hören, danach zu horchen, was vielleicht die anderen Wichtige(re)s zu sagen haben. Er fühlt sich klein und unbedeutend, wird nie Zutrauen finden zu den Akteuren seiner Welt, wird nie gänzlich frei sein können, weil ihn immer belastet, was alle Welt weiß. Wie er sich beobachtet fühlt, wenn er eigentlich frei sein will. Wie er gerne denken möchte, was er selbst sich vorgeben wollte, aber nicht kann, weil er nicht stark genug ist. So kämpft er denn auch gegen sich selbst, so ringt er mit sich, wenn er die Forderung nach Freiheit und Selbstbestimmung immer wieder zurückstellt, weil er gelernt hat, danach zu gucken, was den anderen lieb und teuer ist.

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