Ist es eine Epoche oder eine ästhetische Kategorie, über die man spricht, wenn man den poetischen Realismus meint? Roy C. Cowen, Autor des Buches Der Poetische Realismus – Kommentar zu einer Epoche, hat auf diese Frage keine allgemeingültige Antwort. Was Cowen jedoch tut, ist Licht ins Dunkel der verschiedenen, bislang (Erscheinungsdatum des Buches 1985) zusammengetragenen Antworten zu bringen. Es gibt grob zwei Lager von Positionen, die man festhalten kann, wenn man die Eruierung dessen, was der poetische Realismus sei und wann er sich herausgebildet habe, analysiert. Zum einen sind dies diejenigen, die sich der Frage zeitgeschichtlich nähern und politische wie sozial, gesellschaftliche Ereignisse als Koordinaten des Poetischen Realismus (PR) annehmen, und zum anderen diejenigen, die dies einzig und allein anhand von Werken verschiedener Autoren, wie Cowen schreibt, die repräsentativ für die Epoche gelten wollen, zu tun gewillt sind.
Beide Lager stoßen jedoch auf Schwierigkeiten. Cowen hingegen betont etwas, ein Phänomen, das mir nicht nur in der Literaturwissenschaft begegnete, sondern für die meisten Geisteswissenschaften der Fall ist – ich würde behaupten, das so ähnlich auch auf die Naturwissenschaften zutrifft. Es geht hierbei um eine Art geordnetes Chaos, das sich irgendwo zwischen den Polen der Normativität und seinem Gegenteil bewegt. Bislang war es jedes Mal so, dass bei einer Begriffsklärung nie eine unumstößliche Antwort gegeben war, sondern ein zum Teil sehr heterogenere Entstehungsprozess zu einem nicht unumstrittenen Ist-Zustand eines Common-Sense führte, der derart von vornherein eine beschränkte Haltbarkeit, eben eine Halbwertszeit aufoktroyiert bekam.
Cowen datiert das Anfang und Ende dessen, was den derzeitigen, labilen Status Quo eines Poetischen Realismus ausmache, auf die Jahre 1848 (Beginn) und ca. 1900 (Ende). Es sollen jetzt einige Zitate folgen, die die Diskursfähigkeit, die die Notwendigkeit derselben, deutlich werden lassen:
“Sich mit dem Poetischen Realismus, ja mit dem ‘Realismus’ überhaupt zu beschäftigten, heißt, sich mit der Totalität des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen.” (S. 9)
“Den im folgenden zu behandelnden Poetischen Realismus von den zeitlich benachbarten Perioden und Bewegungen zu unterscheiden wäre kein Problem, wenn alle betreffenden Bezeichnungen und Begriffe sich auf gemeinsame Maßstäbe zurückführen ließen, was jedoch keineswegs der Fall ist.” (S. 10)
Cowen versucht jedoch einen gemeinsamen Nenner zu finde, und, tut dies sehr gewissenhaft. Doch zeigt mir seine Auseinandersetzung, dass die Unterscheidung des Poetischen Realismus damit keinesfalls so einfach abgetan ist, wie Cowen es formuliert.
“Wie wir später erkennen werden, läßt sich der Poetische Realismus, d. h. – von einzelnen Gegenstimmen abgesehen – der ‘Realismus’ in Deutschland überhaupt, ab 1848 ansetzen.”
[…]
“Und je nachdem ob man die ‘bürgerliche’ oder ‘realistische’ Epoche 1871, 1880, 1885, 1898 oder 1900 als abgeschlossen betrachtet, riskiert man, einerseits Werke des sogenannten ‘Poetischen Realismus’ vorzeitig auszuschließen, andererseits über den produktiven Höhepunkt dieser Bewegung hinaus die Darstellung so weit auszudehnen, daß dieser Begriff nur noch begrenzte Relevanz für die ganze Epoche haben kann.” (S. 12f.)
Gewissermaßen als Zusammenfassung seiner Vorbemerkungen stellt Cowen fest, dass man beim Feststellen des Wesensgehalts des PR ein dialektisches Verhältnis von ästhetischen Maßstäben und dem annehmen muss, das ich zuvor die sozial, gesellschaftlichen Komponenten nannte – Cowen nennt sie soziopolitisch (vgl S.13).
Sodann kümmert sich Cowen um eine differenzierte Ausarbeitung des Werts des Begriffsanteils poetisch in der Verbindung des PR. Um einen Eindruck zu gewähren, welche unterschiedlichen Betrachtungsweisen es hierbei gibt, stellt Cowen neben den Begriff poetisch die anderen beiden Begriffe bürgerlich und programmatisch. Zunächst klärt er über den Begriff poetisch auf, der gewissermaßen als abgrenzendes Attribut gegenüber dem französischen Realismus aufgefasst werden darf (vgl. S. 14). Er weist ferner auf Gemeinsamkeiten des Begriffs mit Dänischen und Schwedischen Äquivalenten hin (vgl S. 14f.). Sobald man eine ästhetische Perspektivität unterstellt, kann man den PR gegenüber dem Bürgerlichen Realismus (BR) abgrenzen, wobei letzterer als eine Art Vorstruktur (vgl. S. 18) betrachtet werden könne. Der Konjunktiv ist an dieser Stelle gesetzt, da es in diesem Fall, wie sehr oft, lediglich Cowens Wiedergabe einer anderen Position ist. Wir erfahren mitunter nur sehr selten, welcher Meinung der Autor selbst zustimmt, oder welche Thesen er eventuell ablehnt. Zunächst schildert Cowen, dass man den PR als eine Bewegung und eben nicht als eine Epoche verstehen könne (vgl. S. 19), jedoch liefert er zwei Seiten später bereits die Argumente, die diese These als nicht haltbar entlarven. Denn der PR verfügte über
“…keine üblichen Merkmale einer ‘Bewegung […], z. B. die Entwicklung von literarischen Klubs oder Gruppen, die Gründung einer eigenen Zeitschrift, die Aufstellung eines sonstigen ‘Organs’ (insbesondere einer Bühne) und so weiter.” (S. 21)
Ist also der PR Epoche und Bewegung in einem? Oder wird er in der Literaturwissenschaft zu beidem gemacht?! Vielleicht bedarf es gar nicht einer einzigen Antwort auf diese Frage. Cowen hält in seinen Vorbemerkungen weiterhin fest, dass das Element des Dramatischen in der Bewegung des PR fehle.
“Ebenso kennzeichnend für den ‘Poetischen Realismus’ wirkt andererseits das auffallende Fehlen einer Gattung: der des Dramas.” (S. 23)
Anders als einige der Autoren, dessen Standpunkt er in dieser Frage skizziert, schließt Cowen sich der Meinung an, dass das Fehlen des Dramas mit einem Mangel an dramatischem Talent seitens der Dichter jener Zeit zusammenhängt und zeigt in seiner Argumentation auf, dass der Versuch seitens der poetischen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts, ein Drama schreiben zu wollen, durchaus bestand, jedoch immer wieder fehlschlug, respektive in letzter Konsequenz jedoch, z. B. wegen fehlenden Mutes, ausgesetzt wurde.
Im Anschluss formuliert Cowen die Ziele und Grenzen seines Buches, er fasst zudem noch ein Mal das bereits genannte zusammen. Was zuvor nicht so klar erschien, ist an dieser Stelle nun zum Faktum mutiert:
“Der ‘Poetische Realismus’ beschränkt sich auf eine Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts…” (S. 29).
Wichtig ist die Perspektive Cowens, im Folgenden den PR als Bewegung zu verstehen. So kommt er denn abschließend zu folgender Prospektive, die auch seine eigene Vorgehensweise beschreibt:
“Im vorliegenden Kommentar geht es nicht um das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, zwischen der Wirklichkeit und einem ‘Kunstcharakter’ der realistischen Dichtung schlechthin oder gar im 19. Jahrhundert insbesondere, sondern vielmehr um das zeitlich und ästhetisch begrenzte Phänomen des ‘Poetischen Realismus’.” (S. 31)
Ich selbst möchte an dieser Stelle mit meinen Ausführungen auch innehalten. Vielleicht ergibt es sich, dass ich bei der weiteren Lektüre noch mehr Worte über das Phänomen des Poetischen Realismus verliere, wenngleich weitaus spezifischer, als dies bislang passierte. Doch dafür ist dieser allgemeine Artikel, der einen Einstieg in die Thematik bieten soll, in meinen Augen, nicht der richtige Ort, um sich weiterhin darüber auszulassen. Viel Spaß beim Vermehren der gewonnenen Einsichten, wie es bei Maybritt Illner immer so schön heißt.