In der Auseinandersetzung mit dem 17ten Kapitel aus Christa Bürgers Buch Mein Weg durch die Literaturwissenschaft ist aufgefallen, dass der dort eruierte Begriff einer kritisch reflexiven Literaturwissenschaft noch arg im Dunkeln belassen wurde, und die Auseinandersetzung insgesamt recht abstrakt anmutete. In der folgenden Beschreibung des 21ten Kapitels Institution Kunst/Literatur scheint die Thematik etwas konkreter behandelt zu werden.
Doch wie in der Beschreibung des 17ten Kapitels, so lässt sich auch hier mit einer zitierten Frage beginnen. “Wie läßt sich das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft denken, und wie müssen die Kategorien beschaffen sein, die diese Vermittlung zu fassen erlauben?” (S. 161). In dieser Frage sind zwei Teilaspekte aufgehoben. Zum einen wird die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft gestellt und soll beantwortet werden. Daraufhin orientiert sich der Erkenntnisgewinn einer derart verfahrenden Methodik. Zum anderen müssen, um das ganze wissenschaftlich zu betreiben, Kategorien, d. h. Begriffe gefunden werden, die dazu in der Lage sind, das Verhältnis zu beschreiben. Eine kritische Vorgehensweise erlaubt es indes, die vorhandenen Begriffe zu überprüfen, ihnen eine neue oder abgewandelte Intension zu geben und damit zu arbeiten. Ein Begriffspaar fällt Bürger ins Auge, nämlich die Begriffe Vorurteil und Applikation von H.-G. Gadamer. Diese bedurften jedoch der Anpassung, sollten sie produktiv wirken im Sinne Benjamins und sich “nicht die bloße Legitimation von Tradition zum Ziel setz[en]”, wie Bürger entsprechend Jürgen Habermas zitiert (vgl. S. 162).
Die beiden Begriffe seien zunächst beiseite geschoben. Denn zunächst wird erst die Möglichkeit der Beschreibung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft genauer erläutert werden müssen. C. und P. Bürger suchten nach einer Möglichkeit diese beiden Sphären miteinander in Einklang zu bringen und hielten sich dabei zunächst an die frühen Schriften zur Religionskritik von Marx. “Marx nämlich denunziert […] die Religion als falsches Gebilde, ohne ihr jedoch Wahrheit abzusprechen. Auf diesen Doppelcharakter von Ideologie kam es uns an” (S. 162f.). Um allerdings dieses Prinzip der Ideologiekritik bei Marx für eine Literaturwissenschaft handhabbar zu machen, muss man es abstrahieren. Bürger spricht deswegen von “einem ideellen Gehalt (dem religiösen Dogma) und der gesellschaftlichen Situation von dessen Trägern” (S. 163), die auf einer Metaebene gedacht werden können und die es gilt entsprechend auszufüllen. Bürger betont jedoch an dieser Stelle noch ein Mal, “daß Ideologiekritik demnach nicht die Negation der Werke vergangener Epochen bedeutete, sondern deren historische Wahrheit allererst zutage förderte” (ebd.). In diesem Punkt ist also die Marxsche Ideologiekritik nicht zu weit von der rettenden Kritik Walter Benjamins entfernt. Dies auch deswegen, weil das Zitat sich noch fortführen lässt: “daß Literatur nicht abbild gesellschaftlicher Verhältnisse ist, sondern Produkt, Antwort auf eine Wirklichkeit, die dem historisch Möglichen nicht entspricht” (ebd.). Letzteres spricht den Charakter der Utopie an, den Benjamin ganz eindeutig in der Perspektive, die er einnimmt, von sich weist und vielmehr Lehren aus der Vergangenheit herüberretten will, die in der Gegenwart von Bedeutung sind.
Doch die nächste Frage schwelte bereits in Bürger. Sie ging davon aus, dass eine deartige Konzeption, wenn sie den ideologischen Gehalt eines Werkes suchte, fand und hernach mit der Gesellschaftlichen Situation ihrer Träger in Verbindung bringen wollte, in einem Punkt nicht haltbar sei. Denn das “Einzelwerk, sagten wir, wirkt nicht als einzelnes, sondern innerhalb der Institution Literatur” (S. 164). Doch wenn man diesen Schritt tut und zwischen Einzelwerk und Gesellschaft noch die Institution Kunst plazieren möchte, muss man diesen Begriff von der Institution näher erläutern. Genau dies versucht Bürger im Folgenden, wenn sie in einem nächsten Schritt auf Arbeiten Herbert Marcuses eingeht. Marcuse übertrug das ideologiekritische Prinzip Marx’ Religionskritik auf die bürgerliche Kultur (vgl. S. 165). “Wie Marx in der Religion ein affirmatives Moment nachwies (als Trost entlastet sie die Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung drängenden Kräfte), so Marcuse in der bürgerlichen Kultur, die humaner Werte nur als Fiktion zuläßt und damit deren Verwirklichung verhindert. Und wie Marx die Religion zugleich als Protest gegen das wirkliche Elend auffaßte, verstand Marcuse die Bilder der Kunst als Einspruch gegen das Bestehende. Was uns aber an dem Marcuseschen Modell vor allem faszinierte, war der Funktionszusammenhang von Kunst und Wirklichkeit, den es beschrieb” (ebd.). Dieses längere Zitat stellt die Parallelen zwischen Marcuses und Marx’ Denkweise hinreichend heraus, so dass es nicht notwendig erschien, den Gedanken eigenes umzuformulieren. Nachdem zuvor auf Seite 164 zwei länge Zitate aus einem Werk Marcuses zu lesen waren, bezog sich letzteres Zitat in der Auswertung wohl eben darauf. Nun nennt Bürger jedoch einen Unterschied, ein zusätzliches Element, dass bei Marcuse im Vergleich zu Marx zu finden sei, den Status, den das ideologieproduzierende Objekt (Religion, Kunst, etc.) innehat. Die Kunst habe demnach einen autonomen Status und sei “für die moderne bürgerliche Gesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das, was in traditionalen Gesellschaften die Religion” gewesen sei (vgl. ebd.). An diesem Punkt erst einmal angelangt, hielt Bürger kurz inne, um die Sichtweise Marcuses nicht völlig kritiklos zu lassen. Sie bemängelte die typisch männliche Sichtweise, die die eine Hälfte der funktionierenden historischen wie aktuellen Gesellschaft ausblendet, um zu ihren Annahmen zu kommen und daraus Schlüsse zu ziehen (vgl. S. 166). Doch nach der kurzen Kritik fährt Bürger in ihrer methodologischen Reflexion. So heißt es: “Damals entwickelten wir aus dem Modell Marcuses die weiterführende Einsicht, daß Entstehung und Aufnahme (Produktion und Rezeption) von Kunst und Literatur immer schon unter vorgegebenen institutionellen Rahmenbedingungen stattfinden (ebd.).
Der nächste Gedanke Bürgers gilt einem weiteren Problem, das sich auftut, wenn man versucht eine derartige Interpretationsmethode zu entwickeln, “das Problem der Historisierung der ästhetischen Kategorien” (ebd.) um genau zu sein. Bis hierhin stellt sich allerhöchstens die Frage nach den Kategorien, in denen viele andere gedacht hatten. Doch gerade in dieser Anpassung an ihre Zeit leisten Bürger und ihr Mann einen eigenen Aufwand, der über das bloße Sammeln und Synthetisieren hinaus geht. Bürgers suchen nach einer Begründung für ihr Tun und finden diese offensichtlich in der Perspektive, dass es einen Zusammenhang gibt, zwischen der Entfaltung eines Gegenstandes und seinen Kategorien in der Wissenschaft. Ein Marxsches Theorem, zumindest bezeichnet Bürger es als solches, besagt, dass es einen Punkt gibt, an dem die Entfaltung, die völlige Ausdifferenzierung eines Gegenstandes stattfindet und erst in jenem Moment die Handhabung mittels wissenschaftlicher Kategorien möglich wird (vgl. S. 166f.). Für den Bereich der Kunst, und auf diesen kommt es Bürger an, fand die vollständige Ausdifferenzierung im Ästhetizismus statt. Dies jedoch nur, weil “der Status der Kunst (Abgehobenheit von der Lebenspraxis) und der Gehalt (reine Form) zusammen” (S. 167) fallen. Diesen Punkt gefunden zu haben bedeutet jedoch noch nicht gleichzeitig, einen Erkenntnisgewinn an dieser Stelle produziert zu haben. Nach Benjamin, den Bürger anführt, müsse zunächst die “Stillstellung der Geschichte” bewerkstelligt werden, um weiteren Nutzen aus den vorhandenden Tatsachen ziehen zu können (vgl. ebd.). Es ging um Selbstkritik, und wieder half hierbei die Methodik von Marx. “Geschichte als Kritik, von einem begriffenen Gegenwartsstandort aus” (S. 168). Es musste nun der Punkt gefunden werden, an dem die Kunst zur Selbstkritik gelangte, damit von diesem Ort aus die gesamte Entwicklung der Kunst rekonstruiert werden könnte (vgl. ebd.). Es ist dies die Zeit der Avantgardebewegung, welche dafür sorgt, dass die Institution Kunst sich selbst zu kritisieren beginnt. Erläuternd sei ein Zitat von Peter Bürger angeführt, dass Christa Bürger ebenfalls zitiert. “Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen” (S. 168). Erst als die Kunst sich autonomisiert hatte, war Selbstkritik möglich geworden. Bürger präsentiert dem Leser hier eine spezielle Auffassung von Geschichte, die einen Evolutionsprozess durchläuft, und erst an gewissen Punkten die Möglichkeiten offenbart, die Dinge objektiv, im Sinne von sich selbst erklären könnend, beschreiben und zueinander fügen zu können. Die Institution Kunst, die zwischen dem Einzelwerk und der gesellschaftlichen Situation als Bindeglied fungierte, schränkte den Wirkungsbereich der Einzelwerke ein. Dieser Wirkungsspielraum konnte in der Analyse Wandeln unterworfen sein. Auf diese Weise war es möglich eine derart gerichtete und gefilterte Funktion von Kunst zu erkennen. An Marcuse angelehnt hieße dies, dass ein Werk affirmativ oder kritisch wirken konnte. Die Funktionserfassung und -beschreibung schälte ein Wahrheitsmoment heraus, dass quasi als Produkt betrachtet werden kann (vgl. S. 169).
Im Folgenden führt Bürger ihre eigene Position bezüglich der Sichtweise der Autonomie von Kunst ins Feld. Sie hängt der Meinung an, dass die Autonomisierung ein Teil des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses darstellt. Dies, so schreibt sie, hängt nicht nur mit der Nähe zu Jürgen Habermas’ Thesen zusammen, sondern auch mit der postmodernen Skepsis gegenüber einem ausschließlich positiv bewerteten Fortschrittsbegriff (vgl. S. 171f.). Dem folgt die versichernde Erkenntnis, dass sich sowohl die Werke, wie auch deren Produzenten in einem historischen wie gesellschaftlichen Schuldzusammenhang befänden (vgl. S. 172f.). Bürger führt ihre Gedanken weiter aus, indem sie auf Peter Weiss Kunstverständnis zu schreiben kommt. 😉 Dieser hätte in seinem Werk Ästhetik des Widerstands der Kunst ein anderes Bewusstsein zu entlocken versucht, als es in der herrschenden Praxis getan wurde. Weiss zufolge steckt in der Kunst immer auch ein Moment des tradierten Widerstands, weil in den Werken der Vergangenheit das Leid der Unterdrückten für die Gegenwart konserviert wird. Dieses dient den Rezipienten der Neuzeit als Erinnerung (vgl. S. 173f.). Warum weist Bürger überhaupt auf die Position Weiss’ hin? Nun, vielleicht, weil sie die Reflexion nutzt, um daran etwas zu spiegeln? Sie kommt zurück auf die wissenschaftliche Diskussion. Der Begriff der Institution Kunst/Literatur sei eine hermeneutische Kategorie, man müsse sie entwickeln, “sie aufsuchen in der Reflexion von Philosophen, Autoren, Kritikern” (S. 175). An diesem Punkt kommt sie, nicht zum ersten Mal in dem Kapitel, auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung zu sprechen. Sie betont die Selbstfelexivität im Standpunkt Schillers. Als Erkenntnisgewinn bleibt jedoch übrig: “[N]ur als autonome vermag die Kunst einen Zweck zu erfüllen, der auf keinem andern Weg erreicht werden kann: die Beförderung der Humanität” (ebd.). In diesem autonomen Status, und mit der Humanität als Heilsgut, nimmt die Kunst einen analogen Status zur Religion ein, wie Marx sie analysierte. Das Interessante jedoch ist der Ansatz, den Bürger verfolgt, zwischen Einzelwerk und Gesellschaft in vermittelnder Position die Institution Kunst zu platzieren. Viel weiter in die Diskussion dieses Kapitels in Bürgers Buch einzudringen, halte ich für verfehlt, da in der Reflexion auf den folgenden Seiten nur Dinge wiederholt und ästhetische Positionen begründet werden, die vom Kern der Sache wieder wegführen würden.
Bürger, Christa, 2003: Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. - Frankfurt am Main: Suhrkamp. (=es 2312), hier Kapitel 21: Institution Kunst/Literatur (S. 161-181)