Die Überschrift deutet es bereits an, wir werden im Folgenden etwas über das Verständnis von Geschichte Marx’ erfahren. Fetscher widmet sich diesem Thema in Kapitel 6 seines Buches. Wir haben bereits zuvor etwas mehr darüber erfahren, wie Marx den Begriff Arbeit auffasst und Marx’ Verständnis von Geschichte ist eng mit seinem Verständnis von Arbeit und Arbeitsteilung verbunden. Viele der Arbeiten aus dieser Zeit sind von Marx und zum Teil in Zusammenarbeit mit Friedrich Engels aus dem Grund entstanden, sich von den so genannten Junghegelianern zu unterscheiden.
In Analogie dazu steht z. B. die Distanzierung Ferdinand de Saussures sprachphilosophischer Arbeiten zu denen der so genannten Junggrammatiker. Im Prinzip verfahren beide Parteien analog zu denen im Falle Marx. Die Ansicht der Junghegelianer fußt nämlich eher auf einem a priori Verständnis von Geschichte und von der Welt. Für sie bestimmt das Bewusstsein die Welt, in der die Menschen sich bewegen. Anhand der von ihnen begrifflich gefassten Kategorien entwickelt der Mensch seine Welt. “Gegenüber diesen Philosophen entwirft Marx – Schritt für Schritt – die komplexe historische Struktur von Gesellschaft, Staat und Bewußtseinsformen” (S. 63). Doch bis hierhin hatte Marx schon einige Einschränkungen an seinen eigenen Auffassungen vornehmen müssen.
So sah er jetzt ein, dass sowohl die “besitzende Klasse” als auch “die Klasse des Proletariats […] die gleiche menschliche Selbstentfremdung” (S. 60, Herv. entf.) teilen. Wenn überhaupt, dann sei das revolutionäre Potential des Proletariats jetzt zumindest nicht mehr ontologisch, also zum Wesen der Akteure dieser sozialen Gruppierung gehörig. Es sind vielmehr die sozialen Umstände, die im Widerspruch zum eigentlichen Wesen der Proletarier stehen und sie damit zur Rebellion treiben, und dies auch nur, wenn sich “zu dieser objektiven Lage noch das Bewußtsein dieser Lage” hinzugesellt (vgl. S. 61). Doch auch diese weitgehend “optimistische Einschätzung hat Marx freilich später […] korrigieren müssen” (S. 62). An dieser Stelle erfolgt nun das Referat über Marx’ grundlegende Auffassung von Geschichte, wie er sie in dem Essay Die Deutsche Ideologie verfasst hat. Marx Auffassung steht im Gegensatz zu derjenigen der Junghegelianer eher a posteriori.
Marx reduziert den Geschichtsprozess auf Arbeit und den Prozess der Arbeitsteilung. Denn die Beschaffenheit der Menschen als so genannten Mängelwesen zwingt sie zur Organisation und Bearbeitung ihrer Natur, damit diese für sie überlebensfähig bleibt (vgl. S. 63). “Um zu überleben, ist der Mensch als biologisches Wesen gezwungen, die natürlichen Gegebenheiten durch seine Bearbeitung ‘lebensdienlich’ zu machen, eine Kultur zu erzeugen” (ebd.). Dieser Standpunkt führt Marx dazu, zu glauben, dass die Menschen auf eine Weise fühlen und denken, auf die sie auch produzieren (vgl. ebd.). “Die wichtigsten historischen Entwicklungsstufen entsprechen daher nach Marx der jeweils veränderten Arbeitsweise, vor allem Grad und Art der Arbeitsteilung” (ebd.). Marx skizziert sodann die Stationen der Gesellschaft, wie er sie auf Grundlage der Arbeitsteilung sieht. Diese Spezifika sollen für uns an dieser Stelle jedoch keine Rolle spielen. Wichtig ist vielmehr “zu zeigen, daß ‘die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins” (S. 64) keine Geschichte hat, denn “[n]icht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein” (S. 65, Herv. entf.).
Die Tatsache, dass diese Bewusstseinsformen keine Geschichte haben, bedeutet nicht, dass sie nicht veränderbar wären. Sie selbst sind lediglich Produkt oder Folge des gesellschaftlichen Lebens, und daher lassen sie sich auch nur mittelbar über Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Marx beschreibt anschließend Prozesse der Produktion und der Bedürfnisbefriedigung, ähnlich den 4 Aspekten, die wir bereits kennen gelernt haben und die zur Entfremdung führen. Hier sind es allerdings 3 Verhältnisse, “die Produktion der unmittelbaren Gegenstände des Bedürfnisses, die von Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung (Instrumente, Werkzeuge […]) sowie die Reproduktion des Menschen in der Familie, […] die von Anbeginn der Geschichte an … zugleich existiert haben” (S. 66).
Weiterhin heißt es, dass die “Teilung und Verteilung der Arbeit in ‘geistige’ und ‘materielle’ […] zur einseitigen Verteilung von ‘Genuß und Arbeit'” (ebd.) führt. Dies hat zur Folge, “daß den einzelnen und ihrem Interesse gegenüber das ‘gemeinschaftliche Interesse’ eine ihnen fremde Gestalt annimmt” (ebd.). Die Loslösung von einer lebenslangen Fixierung auf eine spezifische Form von Arbeit soll helfen, dieses Problem zu lösen (vgl. S. 67). Die hier vorgestellten Aspekte sollten lediglich dazu dienen, Marx’ Auffassung ein wenig näher zu erläutern, es wurde daher darauf verzichtet die meisten Aspekte der Geschichtsentwicklung nachzuzeichnen, wie Fetscher es in diesem 6ten Kapitel seines Buches tut. Der geneigte Leser kann mit Hilfe der bibliographischen Daten vielleicht ein Exemplar ausfindig machen, um diese Inhalte dort nachzulesen.
Fetscher, Iring, 1999: Marx. Originalausgabe, Freiburg u. a.: Herder