Die Artikelüberschrift entspricht der Kapitelüberschrift in Christa Bürgers Buch, genauer gesagt der des 17ten Kapitels, Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. Sowohl an dieser Stelle als auch in Christa Bürgers Buch wird das, was eine kritische Literaturwissenschaft ausmacht nur angeschnitten. Zwei zentrale Fragen stellt Bürger ziemlich bald zu Beginn des Kapitels, nämlich: “Wie ist eine kritische Literaturwissenschaft zu denken?” und “Wie sind ihre Begriffe zu entwickeln?” (S. 134). Eine eindeutige Antwort auf diese beiden Fragen wird man im Text vergebens suchen. Lediglich vereinzelte Hinweise darauf, welche Positionen von anderen Autoren, und in Abgrenzung oder Analogie zu diesen die eigenen Positionen, eine kritische Literaturwissenschaft im Sinne Peter und Christa Bürgers konstituieren. So sollen denn auch hier einige Anhaltspunkte genannt werden, an denen man sich abarbeiten muss, möchte man ein differenziertes Bild von Bürgers kritischer Literaturwissenschaft (im Folgenden mit KLW abgekürzt) erhalten. Unmittelbar nach diesen beiden Fragen folgt jene: “Waren wir Marxisten?” (ebd.).
Bürger beantwortet diese Frage positiv mit einem Ja, insofern man alle von Marx’ Schriften als marxistisch verstehen möchte. Auf Seite 135 folgt ein längeres Zitat von einem Werk Marx’. Diese Zitatstelle verweist auf zwei unterschiedliche Aspekte, nämlich zum einen auf die “rücksichtslose Kritik alles Bestehenden” (S. 135), und zum anderen auf eine Nuance des Standpunktes, und anders lässt es sich nicht formulieren, des Interpreten. Diese Einschränkung muss gemacht werden, weil hernach noch ein viel deutlicherer Standpunkt herausgearbeitet werden wird, der vor allem von der Vorarbeit Walter Benjamins profitiert, in dessen Ausarbeitungen bezüglich seines Konzepts einer rettenden Kritik. Mit Benjamin gesellt sich demnach noch ein Positionslieferant zu Marx, und die Verweise auf andere Denker sind nicht wenige, denn, so schreibt Bürger, “wir haben sehr viele und sehr unterschiedliche theoretische Ansätze zur Kenntnis genommen, aber dabei uns doch immer leiten lassen von dem einen ‘Erkenntnisinteresse’ eines methodisch reflektierten kritischen Umgangs mit Literatur. Und wenn wir von Praxis sprachen, so meinten wir unsere Arbeit in Lehre und Forschung” (S. 138). Diese Stelle bietet einige Hinweise und zudem neue Möglichkeiten der Diskussion. Zum einen sei der Hinweis erlaubt, dass C. und P. Bürger die diversen theoretischen Ansätze nicht bloß zur Kenntnis genommen haben, sondern sich daran gerieben haben und zu einer eigenen Position gedrängt sind, oder eine Synthese aus diesen Positionen anfertigten. Dies genauer zu erhellen wird nicht explizit an dieser Stelle geschehen, sondern sukzessive mit der Ausarbeitung über dieses 17te Kapitel, aber auch im Ausblick, mit der späteren Auseinandersetzung mit Kapitel 21 noch vollzogen werden. Man kann jedoch auf alle Fälle festhalten, dass Bürgers eine Art intellektuelles Patchwork erzeugen, wenn sie die Ideen für ihre eigene KLW zusammentragen. In dem Zitat sind zwei weiter Stichwörter gefallen.
Methodisch reflektiert und kritisch, so sei der Umgang mit Literatur in einer KLW zu pflegen. Das erste Stichwort verweist darauf, sich selbst ein Bild über den eigenen Standpunkt zu machen. Dazu gehört auch, etwaige Limitierungen der eigenen Position anzuerkennen und bei der Vermittlung von Erkenntnisgewinn nicht unter den Teppich zu kehren. Zumindest lautet meine eigene Interpretation dieses Stichworts so. Das Stichwort kritisch bedarf genauerem Hinsehen, wird jedoch in einem eigenen Beitrag geschehen müssen. Das Konzept Walter Benjamins einer rettenden Kritik auf das Bürger verweist, wird von P. Bürger in dem Aufsatz Benjamins ‘rettende Kritik’. Vorüberlegungen zum Entwurf einer kritischen Hermeneutik näher beleuchtet. In diesem Aufsatz wird Benjamins Begriff von Kritik mit der Methode der Ideologiekritik verglichen. Für die Präsentation der dort formulierten Ergebnisse möchte ich jedoch einen eigenen Artikel reservieren.
Nun, da dies geklärt ist, bleibt noch der im Zitat erwähnte Begriff von Praxis, der eine besondere Betonung deshalb verdient, weil er im Wortsinn aus der Arbeitspraxis C. und P. Bürgers abgeleitet ist. Dies eröffnet die Möglichkeit der Reflexion im Sinne auch eines dialektischen Prinzips, indem die Praxis immer gleichzeitig Auswirkungen auf die Theorie zeitigt und umgekehrt.
Bürger spricht ein weiteres Problem an. Die damaligen Voraussetzungen ließen das Projekt einer KLW zunächst zwischen den Polen der Textimmanenz und der Literatursoziologie eine Synthese versuchen (vgl. S. 139). “Was wir nicht wollten, stand uns klar vor Augen”, schreibt Bürger. Wir wollten “weder die Verabsolutierung des Werks noch die der Geschichte” (S. 140). Es galt also nicht wie Staiger dies für die Textimmanenz als Methode praktizierte, den “Akt des Sich-hinein-Versetzens” (ebd.) auszuführen, sondern vielmehr Selbstreflexion im Sinne Habermas’ zu betreiben (vgl. S. 141). Und bevor man sich mit Habermas’ Logik der Sozialwissenschaften auseinandersetzte, hatte man, hatten Bürgers Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode gelesen und in dessen Methodik die Begriffe Vorurteil und Applikation für sich entdeckt, freilich ohne die ihnen von Gadamer zugewiesene Intension. Vielmehr kann ich mir vorstellen, dass die Begriffe mehr mit denen der Ideologie und des Standpunktes korrellieren, auf eine Weise, die ich zu so später Stunde nicht noch extra ausführen möchte. Der Aspekt der Selbstreflexion hingegen führt dazu, dass man eine Möglichkeit erhält die Methode der Ideologiekritik mit der der Hermeneutik zu verbinden (vgl. S. 141). Gerade dieser Schritt wird jedoch in Kapitel 21 näher erläutert werden und soll daher auch in einem Beitrag über Kapitel 21 noch ein Mal aufgegriffen werden.
Zum Abschluss des Kapitels heißt es: “Worum es vielmehr ging, war, der historischen Erfassung eines Textes eine gegenwartsbezogene Deutung abzugewinnen” (S. 143). Dies ist ein vorläufiges Resümée, aber auch ein Ausgangspunkt zu einer Diskussion, weil man an das Kapitel 17 genau diese Frage richten könnte.
Bürger, Christa, 2003: Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. - Frankfurt am Main: Suhrkamp. (=es 2312), hier Kapitel 17: Projekt kritische Literaturwissenschaft (S. 134-143)