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Plädoyer für und wider Emil Staiger

Emil Staiger, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, gehört mit zu den namhafteren seiner Zunft und auch zu denjenigen, die von sich behaupten können, sie hätten etwas bewegt. Das so großmunding angekündigte Plädoyer schrumpft sodann auf den Kontext eines ganz speziellen Aufsatzes Staigers zusammen: Die Kunst der Interpretation.

Meine Kenntnisse über die Person Staiger sind ziemlich begrenzt. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus seinen Aufsätzen, die ich bislang gelesen habe oder aus einer anlaufenden Diskussion in meinem aktuellen Proseminar III in der Literaturgeschichte, hier an der RWTH in Aachen. Die Person und die Position Staigers ist viel diskutiert, oft auch kontrovers. Christa Bürger, deren Buch Mein Weg durch die Literaturwissenschaft wir im selben Seminar lesen, kritisiert die Position der Textimmanenz, die immer wieder und vor allem mit der Person Staigers verbunden wird.

Staiger selbst und auch Wolfgang Kayser, so weiß ich seit der letzten Seminarstunde, sind maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass der Text in den Mittelpunkt der Interpretation gerückt wird, fernab von einer Methodensdiskussion versteht sich. Darüber hinaus – und damit steigen wir in die Positionen des Aufsatzes hinein – wollte Staiger nicht nur den Literarhistorikern die, wie er sie nennt “Kunst der Interpretation” überlassen (vgl. S. 9). Im Wesentlichen versucht Staiger dort seine Position darzustellen. Er vertritt die Auffassung, dass Interpretation, wie der Name des Aufsatzes es andeutet, etwas Besonderes, eine Kunst ist. An dieser Position kann man natürlich, wie es u. a. Christa Bürger getan hat, die Kritik üben, dass es eine Position aus dem Elfenbeinturm sei, die aus der Interpretation eine Geheimwissenschaft für einen Zirkel Eingeweihter machen wolle.

So sehr ich aber Staigers Worte lese, kann ich in diesem Punkt die Kritik an seinen Worten nicht teilen. Sicherlich versucht Staiger heraus zu stellen, dass es etwas Besonderes sein sollte, einen Text zu interpretieren und er versucht einen Spagat der mit einem Sehnenriss scheitern muss, wenn er sich und die Position erklärt, Interpretation habe nicht nur etwas mit Wissenschaftlichkeit, sondern auch mit Gefühl zu tun. Nur derjenige sei imstande, einen Text hinreichend zu interpretieren, der sich in den Text und die Werke des Autors einfühlen könne. Der Textimmanenz wird auch vorgeworfen, sie würde viele Dinge außer Acht lassen und so hat sich ein Begriff entwickelt, der eigentlich mit dem Verständnis Staigers nur wenig zu tun hat. Sicherlich schreibt Staiger: “Nur wer interpretiere, ohne nach rechts und nach links und besonders ohne hinter die Dichtung zu sehen, lasse ihr volle Gerechtigkeit widerfahren und wahre die Souveränität der deutschen Literaturwissenschaft” (S. 10).

Der hier benutzte Konjunktiv und der gesamte vorherige Absatz deuten an, dass Staiger an dieser Stelle nur mit einer anderen Position als der seinen kolportiert. Einsichtig wird dies, wenn Staiger im Folgenden exemplarisch Mörikes Gedicht Auf eine Lampe interpretiert und sehr wohl in manchen Situationen auf Wissen links, rechts und hinter dem Werk zurück greift, ja froh darum ist. Der Eindruck, den man von Staiger gewinnen mag, ist also gar kein derart schlechter. Bei Bürger wird eine Position der Textimmanenz kritisiert, ich wiederhole mich gerne, die nicht vollends auf den Staigerschen Standpunkt oktroyiert werden kann. Staiger nimmt z. B. Bezug auf die Hermeneutik in einer dialektischen Prägung, die gleichsam dialektisch den Interpreten bei der Arbeit unterstützt (vgl. S. 11f.). Ich selbst habe bislang keine Interpretationen von Staiger gelesen, außer eben diese über Mörikes Gedicht, in dem Aufsatz, den ich hier zur Diskussionsgrundlage gemacht habe. Doch Staiger weist explizit darauf hin, dass es sich hierbei lediglich um eine schemenhafte, exemplarische Interpretation handelt, die zum Zwecke der Veranschaulichung dienen soll.

Kommen wir aber noch ein Mal auf den Charakter des Besonderen zurück. “Beruht unsere Wissenschaft”, schreibt Staiger, “auf dem Gefühl, dem unmittelbaren Sinn für Dichtung, so heißt das fürs erste: nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein” (S. 13). Man kann diese Aussage sicherlich bei denjenigen als Argument wiederfinden, die Staiger deshalb kritisieren, weil er aus der Literaturwissenschaft versucht eine Zauberei zu machen. Doch auch an dieser Stelle sollte man in sich gehen und diese Worte in andere Kontexte setzen als den der Literaturwissenschaft. Würde nicht jeder andere von seinem Berufsstand genauso reden? Ein Koch, ein Handwerker? Beide würden doch sicherlich auch auf die Frage zu antworten haben, was denn ihr Geheimnis sei. Auf jeden Fall dürften solche Leute nicht mit zwei linken Händen gesegnet sein, wie man so schön sagt. Man kann in jedem und in allem versuchen wollen, es allen zugänglich zu machen, nur bedeutet dies nicht, dass es am Ende auch alle beherrschen. Wahrscheinlich entflamme ich an dieser Stelle ungewollt eine heiße Diskussion, doch lässt sich das Autofahren als sehr eingängiges Beispiel heran ziehen, wie ich finde. Vollkommen frei von einer Schublade, die eventuell mit Personen unterschiedlichen Geschlechts gestopft werden würde, möchte ich nicht ein bereits vielfach widerlegtes Vorurteil aufwärmen, sondern ganz allgemein darauf hinweisen, dass Autofahren eine für das Tier Mensch sehr komplexe Angelegenheit darstellt, wie die Wissenschaft hinreichend belegt hat. Da ändert es auch nichts, dass wir in der Fahrschule ähnlich wie in einer Tanzschule etwas beigebracht bekommen, von dem wir dann denken, wir könnten es.

Wir sind weit davon entfernt Autofahren zu können, wenn wir den Führerschein in Händen halten, jedenfalls die Meisten von uns, und dabei spreche ich von grandiosen Größenordnungen, bzw. von einer sehr marginalen Population, die – gewissermaßen intuitiv – mit einem Gefährt umgehen kann. Nicht erst ein Unfall ist ein Zeichen für das zum Teil überfordernde Potential, dass dem Autofahrer abverlangt wird. Nein, schon ein Stau, ein ungeduldiges Hupen, ein Strafzettel, Werkstätten und Pannendienste, Abschleppunternehmer und findige Nachbarn, die eben keine zwei linken Hände haben und einem im Umgang mit dem eigenen Auto zur Seite stehen, sind allesamt Indizien für die Komplexität. Da mutet es dann nicht arrogant an, wenn man behauptet, nicht jeder können Autofahren, genauso wie wir sagen können, dass nicht jeder kochen kann, oder eben manche Leute mit ihrer linken Gehirnhälfte besser zu Recht kommen, als mit der rechten. Lange Rede, kurzer Sinn in diesem Plädoyer: Wir sollten auch Staiger, einem besonders Begabten seiner Zunft zugestehen, von seiner Literaturwissenschaft als etwas Besonderem zu sprechen.

Wenn wir uns oft genug über jemanden im Dienstleistungssektor ärgern, und ihm andichten, er wäre dafür nicht geboren, tun wir im Grunde genau das Gleiche, was Staiger für die Literaturwissenschaft erklärt, und damit auch zurück zu seinen Äußerungen. Staiger erklärt ein Kunstwerk als etwas im Stil mannigfaltiges, dass doch eins ist (vgl. S. 14f.) Es sei die Aufgabe der Interpretation, diese Erkenntnis zu vermitteln. Staiger ist dann auch jemand, dem sehr daran gelegen ist, die Texte zu pflegen und die Lektüre ihm wertvoll erscheinender Texte zu unterstützen. Die stilistische Einstimmigkeit, die in besonders wertvollen Kunstwerken verborgen ist, soll sich nach Meinung Staigers auch in der Interpretation widerspiegeln und so plädiert er dafür, dass kein Teil einer Interpretation ein Übergewicht erhalten und damit aus dem Ganzen heraus fallen solle. Bei der Interpretation von Mörikes Gedicht ergibt sich am Ende sogar eine Situation, die einen Briefwechsel zwischen Staiger und Heidegger anstrengt. Beide sind unterschiedlicher Auffassung bei der Interpretation des Wörtchens “scheint”.

Doch auf den Briefwechsel werde ich vielleicht irgendwann gesondert eingehen. Ich habe mit Sicherheit nur einige wenige Aspekte aus dem Aufsatz beachtet, möchte dies auch gar nicht verhehlen, wo es mir ja gerade um Ausgewogenheit ging. Ich persönlich bin jedoch der Meinung, dass man, wenn man Textimmanenz kritisieren möchte, nicht gleichzeitig Emil Staiger kritisieren muss. Seine Ansicht über Literaturwissenschaft liest sich vielleicht gerade heutzutage etwas abgehoben, da der Aufsatz aus dem Jahre 1951 stammt. Was aus der textimmanenten Interpretation, wie sie Staiger vorschlägt, geworden ist, hat Staiger selbst, einige Jahre später in einem anderen Aufsatz, einer Nachrede, festgehalten, von der ich zwar weiß, aber eben nicht genau genug, als dass ich auf sie referieren könnte. Sinngemäß, so habe ich es in der Seminardiskussion erfahren können, hat Staiger das Ergebnis dessen, was die Interpreten aus der Interpretation gemacht haben, wie er sie sich eigentlich vorstellt, kritisiert und zurück gewiesen. Ein Grund mehr, die Staigersche Position in einem anderen Licht zu sehen.

Staiger, Emil, 1967 (1951): Die Kunst der Interpretation. - S. 9-33 in: Ders. (Hrsg.): Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. - Zürich: Atlantis.

One reply on “Plädoyer für und wider Emil Staiger”

Das ist mir schon vor ca. 30 Jahren ähnlich gegangen — damals Deutsch-Leistungskurs bei einem Doktor der Germanistik. Da lasen wir sogar die ersten Seiten “Kunst der Interpretation”, wurden aber bei den Konjunktiven darüber belehrert, wir sollten uns von denen nicht irritieren lassen: die referierte strikte “Textimmanenz” sei Staigers eigene Position, und bevor Staigers Kriitk an der referierten Position kam, war die Stunde beendet. Glaube nicht, dass es mir damals gelang, den Lehrer von dieser Meinung abzubringen (falls ichs überhaupt versucht habe).

Obwohl die schlichte “Textimmanenz und sonst nichts” eben auf Staiger wirklich nicht zutrifft, wie man merkt, wenn man seine sonstigen Sachen liest (hab ich später und find heute immer noch seine Bücher über Goethe und Schiller die besten, die ich kenne). Er nutzt reichlich (Geistes- und Literatur-) Geschichtliches, Biographisches usw., soweit es eben FÜR DIE TEXTINTERPRETATION WAS BRINGT (wie auch in der “Kunst der Interpretation” geschildert). Allerdings hält er diese Interpretation mit dem Anhäufen von Kommentar-, Kontext- und Anmerkungs-Material eben für nicht erledigt, sondern meint, dass sie dann erst anfangen müsste. Und will v.a. wissen, was der Text selber beim Lesen (oder bei einer Bühnenaufführung) nach Meinung des Autors in seinem Publikum anrichten bzw. ausrichten soll.

Finde ich auch und immer noch. Und es freut mich, dass sich weiter Leute damit abgeben und nicht aufgeben. Im Moment gibts sogar eine Ausstellung über ihn in Zürich: “Bewundert viel und viel gescholten – der Germanist Emil Staiger (1908 – 1987)”

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