Seine Zehen bewegten sich noch. Er tat einen Blick an sich herunter. Der große Onkel war nicht gebrochen, und er heilfroh. Er war mit einem mords Bums vor den Pfosten getreten. Martin hatte Straßenschuhe an und wollte unbedingt beweisen, dass er mit den Kindern aus der Siedlung mithalten konnte. Sie spielten auf einem Hinterhof. Die Tor waren der Ausgang zur Straße auf der einen Seite und die Sandstein-Pfeiler eines Aufgangs zu einem der Häuser, die im Hintergrund die Wohnsiedlung von der Hauptstraße abschotteten.
Fips hatte vorhin seinen Fuß weggezogen und Martin war mit voller Wucht vor den Sandtstein getreten. Er verzog das Gesicht noch immer und konnte sich die Tränen nur mit Mühe verkneifen. Es war nicht sein Tag. Erst hatte er in der Schule von Sandra einen Korb erhalten, und nun musste er sich damit abfinden, dass die Nachbarskinder ihn wegen seines ungestümen Handelns auslachten. Keiner frug Martin, ob er Schmerzen hatte. Natürlich hatte er die. Keiner nahm davon Notiz. Und er? Er hockte sich Abseits, zog den Tennissocken aus und rieb sich den Fuß. Es bewegte sich noch alles zu vollster Zufriedenheit. Nur an einer kleinen Stelle schimmerte ein wenig Blau hindurch. Morgen würde Martins halber Fuß blau angelaufen sein und in 5 Tagen hätte sein Organismus mit kleinen Schritten die Stellen grün und braun gepinselt. Er ärgerte sich.
Es gab einen Knall. Martin hatte die Pille vor den Kopf bekommen. Seine Brille war entzwei und die Jungs hatten wieder was zu kichern. Er trollte sich von dannen. Er hatte genug. Martin sah etwas älter aus als der Durchschnitt. Trotzdem steckte er mitten in der Pubertät. Die Hormone machten langsam aber sicher die Frauen interessant, und er wusste nicht, wie er dieses noch unbekannte Drängen befriedigen könnte.
Die Mutter wollte ihn zum Arzt schicken, doch er ließ nicht mit sich reden. Auch irgendwelche kalten Wickel wollte er nicht haben. Salbe?! Pff… die brauchte er nicht. Martin ließ nicht mit sich verhandeln, ging schnurstracks in sein Zimmer hoch und seine Mutter ohne ein weiteres Wort zurück.
Da saß er nun auf seinem Bett und wusste nichts mit sich anzufangen. Süß war sie ja schon. Er verstand nur nicht, warum sie ihn abgewiesen hatte. Er träumte diese Nacht von ihr. Sandra erschien ihm so anders als die übrigen Mädchen. Es war hoffnungslos. Er kam sich wie ein Versager vor und musste einsehen, dass es besser sei, sich nicht mehr für diese Sandra zum Affen zu machen. So kam er sich immer vor und er hatte die Faxen dicke.
Die Woche hatte blöd begonnen und die nächsten Tage trat keine Besserung ein. Die Jungs hielten ihn für einen Trottel, der nicht vor den Ball treten konnte. Die Mädchen interessierten sich nicht für ihn. Könnte es noch schlimmer kommen?
Die Mutter schickte ihn einkaufen. Warum er? Warum schickte sie nicht seinen älteren Bruder. Max hatte genug Zeit und ging unheimlich gerne einkaufen. Sie wollte ihn schikanieren. Ganz bestimmt wollte sie das. Vater war Fernfahrer und wieder auf Tour. Mutter ständig gereizt. Nur manchmal, wenn Vater an einigen Wochenenden daheim war, kam sie manchmal mit einem Lächeln auf den Lippen aus dem elterlichen Schlafzimmer.
Bohnen sollte er mitbringen. Zwieback, weil Max Bauchgrimmen hatte und neues Katzenfutter. Konnte Mutter das nicht allein erledigen. Martin schnappte sich die Kopfhörer und marschierte los. Er ging in den Edeka einige Straßen weiter und nahm die Stöpsel erst aus den Ohren, als er mit Bezahlen an der Reihe war. Ob er eine Tüte haben wollte, frug die Verkäuferin ihn. Natürlich nicht. Die Paar Sachen konnte er auch ohne Tüte gesund nach Hause bringen. Er verstaute das Geld in der Börse, steckte diese in die Hosentasche an der Arschbacke und wollte gerade wieder die Ohrhörer ihrer Bestimmung überlassen, als er an der Straßenecke Frau Meyer erblickte. Die alte Dame wohnte nebenan. Doch im Augenblick hatte sie zu kämpfen, mit ihren Einkäufen und ihrer Handtasche. Martin ging einen Schritt schneller. Er wollte ihr auf dem Weg nach Hause helfen; Martin war gut erzogen. Frau Meyer nestelte an ihrer Handtasche und plötzlich wurde sie von einem Mittzwanziger angerempelt, der offenbar an der Ecke gewartet hatte. Der Kerl wollte der rüstigen Rentnerin ihre Tasche entwenden. „Nicht mit mir“, dachte Martin. Er ließ seine Einkäufe fallen und spurtete auf Frau Meyer und den Mulatten zu. „Halt!“, schrie Martin. „Bleib stehen!“Er kannte den Räuber vom Sehen. Sie hatte manchmal ihren Sportunterricht in der Halle der Berufsschule stattfinden lassen, und dort war er ihm schon mal begegnet. Ein kurzer Blick in Martins Augen und Joseph rannte, was das Zeug hielt – Martin hinterher. Frau Meyer brauchte eine Weile, bis sie realisierte, was da vor sich ging. Martin rannte und rannte. Er war schnell. Er war verdammt schnell.
Was willst Du? Joseph hatte in einer Garageneinfahrt halt gemacht. „Gib mir die Tasche!“, monierte Martin. „Welche Tasche?“, wollte Jospeh wissen. „Die Tasche, die du Frau Meyer geklaut hast.“- „Du spinnst, Alter! Lass mich in Ruhe. Ich hab keine Tasche.“ – „Nun mach schon. Ich kenn dich. Gib mir die Tasche.“ Martin blieb stur. „Kleiner, du hast doch gar keine Chance gegen mich. Du spinnst echt.“ – Martin versperrte Joseph den Weg, doch der hätte sich dadurch nicht beeindrucken lassen müssen. Er tat es trotzdem. „Hier Mann, nimm die scheiß Tasche. Aber ein Wort, das schwör ich dir und du bist dran. Das hier ist nie passiert, Spinner. Sonst erlebst du dein blaues Wunder.“ Joseph warf Martin die Tasche vor die Füße und verschwand. Martin hob die Tasche auf und ging zurück zum Supermarkt. An der Ecke stand noch immer Frau Meyer. Sie mussten einige Minuten gerannt sein. Frau Meyer schimpfte, als Martin von hinten an sie herantrat. Sie erschrak, doch dann erkannte sie den Nachbarsjungen.
„Ach Martin, Du bist das. Weißt Du, mir hat jemand die Handtasche geklaut. Da war alles drin. Geld, der Ausweis, der Schlüssel.“
„Ich weiß.“ – Martin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er zog hinter seinem Rücken Frau Meyers Handtasche hervor.
„Ach Du warst das vorhin, der da diesem Kerl hinterher gelaufen ist?“
„Ja, Frau Meyer.“
„Och Junge, du bist ja ein richtiger Held.“
Martin brachte die alte Nachbarin noch sicher nach Hause. Seine eigenen Einkäufe vergaß er allerdings, weshalb es später noch Ärger mit der Mutter gab.
Einen Monat etwa waren die Vorgänge mit Frau Meyer her, da klingelte das Telefon. Martins Mutter rief von unten hoch. „Maaaaaartiiiiiin – für Dich. Ein Määäädchen.“ Er rannte die Stufen hinunter und hechtete zum Apparat: „Hallo?“ – Er konnte nicht wissen, dass Sandra ihn zum Eis einlud, und er hatte auch nicht gewusst, dass sie Frau Meyers Nichte ist.
Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert 2009 [PDF]