Heinz ruht, er ruht in sich selbst, wie er immer in sich selbst ruht, solange, bis ihn sein Tagwerk wieder einmal erfasst; seine Hand beginnt zu zittern oder tut sie das gar schon eine ganze Weile? „Du schon wieder!“ Er hätte es nicht sagen können. Wann sie zuletzt geruht hatte, noch wann er sich dessen ein letztes Mal bewusst gewesen war, das kann er jetzt nicht mehr sagen. Auch wenn er sich anstrengt, wenn er versucht, seine Gedanken auf diesen einen Augenblick zu fixieren, wie ein Objektiv einen Punkt im Raum fixiert, wenn jemand eine Aufnahme machen möchte… er kann es nicht mehr entscheiden.
Heinz ist 48 Jahre alt und hat schon lange keinen seiner Geburtstage mehr gefeiert. Glück ist also was Anderes, nur kann man nicht sagen, dass er vom Pech verfolgt wird. In Heinz steigt öfter mal das drängende Gefühl auf. Immer wieder steigt es in ihm auf, und immer öfter tut es das. Beinahe jeden Tag, … „Ach Quatsch, was red ich!“ – Unfug, denkt er sich, weil er dieses Gefühl nicht mehr loswird. „Nicht nur einmal am Tag. Es kommt einfach, ohne mich zu fragen. Ich hab’s ihm jedenfalls nicht erlaubt und gefragt hat mich auch keiner.“ Just gerät er wieder in Bedrängnis, der Heinz. Die Ruhe ist vorbei; er wieder einmal bemannt von dem drängenden Gefühl, dass in ihm hochkommt, verrichtet sein Tagwerk und stillt der drängenden Gelüste Durst. Heinz weiß gar nicht mehr, wie oft dieses drängende Gefühl in ihm aufkam, wie er dem Druck jedes Mal nicht standhielt. „Warum?“ Er weiß nicht, warum er in diesen Momenten immer nachgibt. „Es hat mich doch keiner gefragt. Warum spricht denn niemand mit mir?“ Auch wenn er nicht merkt, dass er mit sich selbst spricht, erwartet er trotzdem eine Antwort. „Es kann doch nicht so schwer sein, oder?“
Die Zeit des Bewusstseins und des Bewusstwerdens ist schon eine Weile – Heinz hätte nicht zu sagen gewusst wie lange – vorüber. Wenn er sich erinnern würde, war es wohl schon einige Jahre her, als sie beide bewusst gelebt hatten. Aber er erinnert sich jetzt nicht, nicht mehr. Heinz’ zeitlicher Horizont verknappt sich mit jedem Tag ein bisschen mehr, er hat das Gefühl, geistig auszutrocknen und emotional zu verhungern. „Warum?“ Sein Tagwerk ist das Einzige, was ihm noch bleibt. Dumm nur, dass es seinen Geist vor seiner Umwelt gefangen hält.
Vor einiger Zeit, er hätte es bestimmt gewusst, dachte Heinz noch ganz genau an Gestern und den Tag nach Heute. Doch für ihn heißt es schon lange nicht mehr: Arbeiten um zu leben. Er lebt, und man lässt ihn leben, um sein Tagwerk stets pflichtbewusst und bald schon penibel zu verrichten, wenn die Perspektive auch passen muss, um zu diesem Schluss zu kommen. Heinz verrichtet sein Tagwerk mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks. Pervers lediglich, dass er sein Geld nicht dafür erhält. Heinz muss es sich holen. „Einmal im Monat komm ich euch besuchen. Tag Frau Schneider.“ Eigentlich geht er nicht bloß einmal im Monat dorthin, manchmal verirrt er sich öfter auf das Amt. Nicht immer empfängt man ihn herzlich. Keiner nimmt sich ihm in solchen Momenten an, alle überlassen sie ihn seinem Schicksal. Sie wissen alle, dass Heinz nicht mehr allein ist, dass er einen ständigen Begleiter hat. Gerade an jenem stören sich die Meisten dort – „Das stört mich nicht!“ – , auch wenn er ihnen selbst kein Unbekannter ist.
Hätte er sich erinnert, sich erinnern können, hätte Heinz vielleicht gemerkt, dass auch dies schon eine Weile zurück liegt in seinem Leben. „Wie lange schon?“ Heinz ist nicht mehr der Herr im Haus, hat nicht mehr die Hosen an. Er trägt es mit Fassung oder ergibt er sich nur seinem Schicksal? Ihm fehlt nichts, jedenfalls nicht viel, nur kann er nicht klagen – „Worüber denn auch?“ –, dass ihm etwas fehlt.
Heinz hat in seinem Leben einen Fehler gemacht, immer wieder denselben. Dabei fehlt doch nicht viel. Nur: Heinz ist nicht mehr fähig, die andere Seite zu sehen und er weiß nicht, auf welcher Seite er überhaupt steht. Er wird nur dort hingestellt, abgestellt und abgerichtet, um täglich sein Tagwerk zu verrichten. Man kann Heinz nicht vorwerfen, er würde sich auflehnen oder widersetzen. Er tut, was man ihm aufträgt, genau genommen, tut Heinz alles, was man ihm zu tun gibt – seine Hand zittert wieder, und wieder löscht er den Durst, den dieses drängende Gefühl ihm aufzwingt -, alles was ihm zu tun übrig bleibt. Und das ist nicht wenig, zumindest nicht zu viel. Es bedeutet auf jeden Fall Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für sich und das Seine.
Heinz hat ein gutes Verhältnis zu dem, der ihm vorsteht, der jetzt das sagen hat – „Lass mich!“ –, ein Verhältnis, wie zu einem Vorgesetzten. Eigentlich unterhält er viel eher eine kollegiale Kumpanei zu diesem Boss, seinem Boss. Ein fast schon brüderlich freundschaftliches Verhältnis, weichen die beiden doch nur selten von der Seite des Anderen; Heinz schläft noch für sich. Seine Träume gehören noch ihm allein. Wie lange kennen sich die Zwei nun schon? „20 Jahre sind es bestimmt.“ Wenn Heinz ehrlich zu sich selbst ist, dann wird er feststellen, dass sie beide sich schon eine Weile länger kennen. Er war damals ein Jugendlicher, ein Mitläufer, ein Fähnchen im Wind, das sich dorthin dreht, wo es die Chance hat, erkannt zu werden, anerkannt, beliebt, geachtet. Langsam und stetig hatten sie einander kennen und mögen gelernt. Heute kann Heinz sich nicht mehr in alle Richtungen drehen, wie er will. Heute muss er sich nur noch in eine Richtung drehen, damit er ihn kennt, ruhig ist, beruhigt. Heinz ist still geworden, sehr still – zu still?
Mit der Zeit ist Heinz dann ein fleißiger, gewissenhafter Tagewerker geworden, hat darüber aber die Welt um sich herum, seine Eltern und Freunde vergessen, hat sie ihn vergessen lassen. Er wüsste aber noch genau von den vielen Erlebnissen und Ereignissen zu erzählen, würde ihn jemand danach fragen. Sollte er sich selbst in Frage stellen? „Warum denn?“ Dann würde ihm immerhin jemand zu antworten haben.
Heinz ist nie ganz alleine gewesen und auch heute nicht ohne Freund, einen ganz speziellen sogar. Er teilt (beinahe) das Bewusstsein mit Heinz und bald auch noch dessen Träume. Aber Heinz geht es dabei doch nicht schlecht, das darf keiner denken. „Lasst mich doch alle in Ruhe!“ Als die beiden sich ein zweites Mal über den Weg gelaufen sind, war guter Rat teuer. Doch Heinz war damals in Arbeit und deshalb hat er sich diese Liaison geleistet. Sie schenkt ihm Kraft, gar keine Frage, wenn auch für immer kürzere Phasen – der Druck sich der erlösenden Wirkung hinzugeben wächst wieder – und in immer kürzeren Abständen. Deshalb konnte er die Verbindung doch nicht aufgeben. Sie spendet ihm Trost, wann immer er will und er weiß, er wird verstanden. Beide teilen sie Heinz’ Verstand unter sich auf. Es gibt bloß eine Bedingung: Es werden keine Fragen – die Heinz nicht mag, nicht an sich ran lässt – gestellt. Schon so lange werden keine Fragen mehr gestellt. „Ich will das nicht.“ Eigentlich hat man ihn noch nie in die Verlegenheit versetzt, hätte er sich recht entsinnen können, eine Frage beantworten zu müssen.
So ist es schon einige Jahre her, dass Heinz seinen Job verlor und auch nie so recht eine Frau zum Lieben und Leben gefunden hat und heute eben immer noch nicht. Es war und ist ein Leichtes, aber ist es auch ein schönes Leben? „Hör doch auf!“ Heinz stellt sich diese Frage nicht, nicht mehr, hat sie sich eigentlich nie gestellt. Er verrichtet lieber – tagein, tagaus – sein Tagwerk, bis er irgendwann, so sähen Heinz’ Hoffnungen wohl aus, in Rente gehen kann, wenn er es einmal abschließen könnte, sein Tagwerk. Von einem Amt, darf er dann zum nächsten wandern, wenn er will und kann, wenn er es bis dahin schafft. Er macht es sich selbst schwer und einfach ist es bestimmt nicht, mit diesem Parasiten an seiner Seite im Besitz seiner Kräfte zu bleiben. 50 will er – „Auf alle Fälle!“ – werden. Das hat er sich geschworen. Darüber muss er jedoch noch verhandeln, mit dem Boss, dem Chef, dem guten Freund, der ihn nicht mehr los lässt, wohl nie mehr los lassen wird. „Ich kann nicht mehr.“
Vielleicht hätte Heinz einmal gedacht, erreicht er das Rentenalter, wenn er seinem Vorgesetzten keine Fragen stellt und keine unangenehmen Forderungen an diese – seine – Adresse formuliert. Wenn er seinem Tagwerk erfolgreich ein Ende setzen könnte, würde er es dann schaffen? „Ohne mich!“ Diesen Augenblick sehnt er sich jeden Tag herbei, ihn zu erleben, fällt ihm schwer, zu schwer. Die Antwort auf diese Frage wird Heinz wohl nicht mehr finden, weil er, vom Tagwerk ganz und gar eingespannt – er gibt dem Druck schon wieder nach –, nicht in der Lage, nicht Herr der Lage ist, sich überhaupt in diese Frage zu retten. Was bleibt Heinz dann noch zu tun? „Gib mir mehr!“ Er wird sein Tagwerk verrichten, von dem Druck drangsaliert, dem drängenden Gefühl nachgebend, das immer wieder in ihm aufsteigt und auch weiterhin wird, in immer kürzeren Abständen, damit er zumindest Eines in seinem Leben richtig gemacht hat.
Hör gut zu Heinz: „Heute nicht!“
Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert 2005 (2004) [PDF]