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Die perfekte Welle

Tom stand mit einem Bein im Türrahmen des Badezimmers. Der Rest seines Körpers befand sich sogar darin. Seine Frau hatte ihm irgendetwas zugerufen, das er jedoch bei geschlossener Badezimmertür und unter dem Plätschern des Wasserhahns nicht verstanden hatte. Er hatte den Nassrasierer beiseite gelegt, den Wasserhahn abgedreht und war behänden Schrittes mit feuchten Händen und Schaum im Gesicht zur Tür gegangen, um sie zu öffnen und seine jetzige Position einzunehmen. Mittlerweile hatte Tom seinen Körper – um seinen Fuß als Angelpunkt herum – symmetrisch versetzt. Er stand jetzt noch mit einem Bein im Türrahmen. Der Rest seines Körpers ragte in den Wohnungsflur hinein. Irgendwo am anderen Ende musste sie ja sein, seine Frau, und hoffentlich würde sie sich bald wiederholen. Tom hatte noch einiges vor. Er wollte sich ausgehbereit machen und seine Frisur zu diesem Zweck auf Hochglanz trimmen. Sekunden des Wartens machten ihn ungeduldig; Wasser tropfte von seiner Hand auf den Teppichboden. Die grauen Poren unter ihm saugten die Leben spendende Flüssigkeit auf. Außer einem winzigen Fleck, der für einige Zeit etwas dunkler sein würde und tausenden von Mikroben, die unter dem Druck des auf sie hereinbrechenden Wassers um ihr Schmarotzerdasein rangen, rührte sich nichts. Tom horchte noch eine Weile fahrig in den Flur hinein und ging dann wieder ins Bad, schloss die Tür hinter sich, nahm den Rasierer wieder in die Hand und drehte den Wasserhahn erneut zum Plätschern auf. Er hätte sie noch einmal fragen können, ob sie ihm etwas hatte sagen wollen. ‚Aber’, dachte er bei sich, ‚wenn es wichtig gewesen wäre, hätte sie sich schon beschwert.’ Just in dem Moment hörte er wieder die scheinbar aufgeregte Stimme seiner Frau etwas rufen. Es kam bei ihm wieder nur als eine Fülle lückenhafter Phrasen an. In etwa so: „Schatz, das …“ und „Da ist etwas …“, „… im Fernsehen.“, und am Ende noch so etwas wie „… Wasser …“. Letzteres konnte er beim besten Willen mit den Wortfetzen von davor nicht in Einklang bringen. Er hatte zwar viel Übung darin, die unfertigen Gedanken seiner Frau emphatisch zu vervollständigen, aber in diesem Fall musste er passen. Er würde sich, sobald er im Badezimmer fertig war, über die Dinge erkundigen, die seine Frau ihm hatte mitteilen wollen. Sie hatte sich noch nicht selbst als Einsatzkommando in Personalunion auf den Weg gemacht. Er konnte noch immer ungestört fuhrwerken. Vielleicht war es nicht so wichtig, oder sie im Gegenteil so gefesselt davon, dass sie sich nicht vom Fleck wegbewegte. Das konnte er sich gut vorstellen, da sie von „im Fernsehen“ gesprochen hatte. Tom rasierte sich zu Ende. Er benetzte seine Hände mit alkoholhaltigem Aftershave und rieb sich damit sein Gesicht ein. Wenn er zu viel davon nahm, stieg ihm jedes Mal der Alkoholdampf in die Nase und er erinnerte sich daran, dass manche Leute so etwas gar absichtlich taten. Als er seinen Zivildienst in einer psychosomatischen Klinik für Drogen- und Alkoholabhängige abgeleistet und dort noch für zwei weitere Jahre neben seinem Studium gejobbt hatte, war ihm zu Ohren gekommen, dass manche männlichen Alkoholiker sich auf diese Weise tagtäglich eine Form minimaler Ersatzbefriedigung besorgten. Sie badeten schon fast in Aftershave, anstatt es einfach nur zu benutzen, wie Tom es gerade eben auch getan hatte. Konnten sie es kontrollieren?! – ‚Es ist schon komisch’, dachte er, ‚woran man sich alles erinnert.’ Er selbst hatte mal von seinem Kopf als einem Schwamm gesprochen, der unheimlich viele Informationen aufsog. Tom fing an, seine Haare zu fönen. Er hatte zuvor unter der Dusche gestanden und war eben erst damit fertig geworden, sein Kinn, seine Wangen und seinen Hals unter einer dicken Schicht Rasierschaum zu begraben, wollte gerade den ersten Zug mit dem Rasierer unternehmen, als er die unverständlichen Rufe seiner Frau zum ersten Mal vernommen hatte. Er sollte heute einen Termin in der Stadt haben, für den er sein Haar auf unnachahmliche Weise in Form bringen wollte. Er war nicht Elvis, weiß Gott nicht, aber er fönte sich die Welle hinein. Er kam mit dem Fön von rechts unten auf seine eigene behaarte Weltkugel zu. Dann führte er eine Bewegung von der anderen Seite aus. Er trocknete zunächst die Haare im Nacken und kreierte anschließend mit einem Frontalangriff die Wahnsinnswelle. „Unfassbar“, freute er sich. „Einfach zu schön um wahr zu sein.“ – Er wollte diesen Augenblick der Perfektion einfangen. Er wollte ihn bändigen und bannen. Tom griff resolut zur Flasche mit Haarspray und fixierte diese vollkommene Ausgeburt seiner kreativen Schöpfung. Wenn jemand in diesem Moment in seinen Kopf hätte hinein horchen können, wäre ihm schwindelig geworden. ‚Zum krönenden Abschluss’, dachte er bei sich, ‚nur noch ein wenig Duft.’ Er sprühte Eau de Toilette auf seine Kleidung, etwa in Brusthöhe, und auf seine heute besonders gelungene Frisur.

Als er endlich aus dem Badezimmer kam und eilig ins Wohnzimmer ging, wollte er sich von seiner Frau verabschieden. Da sah er es endlich, das Wasser von dem seine Frau gesprochen hatte. Der Nachrichtenkanal zeigte die entfesselte Naturgewalt vor den Inselküsten Südostasiens. Eine angestrengte Reporterstimme sprach über unfassbar hohe Zahlen von Toten und Verletzten in der Region. Jetzt wusste er das „…Wasser …“, diese Flutwelle, diesen Tsunami mit den Worten seiner Frau in Einklang zu bringen. Es erschien ihm alles so absurd und paradox. Er wollte ins Bad gehen und sich die ganzen euphorischen Emotionen von vorhin wieder vom Kopf waschen.

Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert im August 2006 [PDF]

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