Gerade eben wechselte man noch Worte. Ein Abschied auf Zeit, dachte man. So gehen zwei Frauen auseinander und wissen nicht, wie der nächste Augenblick eine von ihnen zum Ursprung des Seins führen wird und die andere mit ihren Erinnerungen kämpfen lässt. Obgleich nicht verwandt, könnte eine die Mutter der anderen sein. Mit Silbergrauen Haaren, ein wenig zottelig. Ein Blick durch Brillengläser, der an eine Künstlerin erinnert. Man tauscht sich aus. Nachbarn. Vor dem Gartenweg spricht man von Morgen. Vom nächsten Kaffee wird gesprochen. Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Eine Umarmung, wie schon viele Male. Blicke, die sich freundschaftlich entzweien und nichts von alledem verraten, was dann passiert.
Die Junge – schwarzes, kurzes, leicht krauses Haar – zieht sich zurück in das eigene Gemäuer. Vier Wände. Ein Haus. Die Treppen durch den Hausflur gleichen einem Aufgang ohne Wiederkehr. In der eigenen Wohnung angekommen, schlüpft K. in wohligere Klamotten. Sie ist Mitte Zwanzig und hat nichts desto Trotz ein bewegtes Leben hinter sich. Stille Wasser sind tief. Die Waben ihrer Bauchmuskeln schmiegen sich an den weichen Stoff von Frottier. Sie mag es gemütlich. K. öffnet die Tür zum Balkon. Ein Wimmern. Eine Katze, denkt sie. Doch das Jammern klingt leise und stetig. Es kommt von draußen rein und dringt an ihr Ohr. Es legt sich nicht. Dafür regt sich nach und nach ein Treiben. In wenigen Augenblicken kommen Menschen zusammen. Nachbarn. Bald fährt ein Krankenwagen vor. Die Ältere, mit den silbergrauen Haaren liegt blutend auf dem Boden. An ihrem Unterleib ein dunkler Fleck. Ihre Exkremente sickern durch den Asphalt ins Grundwasser.
K. läuft heran, kann die Situation nicht greifen. Sie wird gepackt von dem Anblick, der sich bietet. Notärztliches Personal hievt die Ältere auf eine Trage in den rot, weiß und blau lackierten Wagen. Nachbarn halten ihr altes Mütterchen, selbst pflegebedürftig. Der Sohn, er wird informiert werden.
Die Herbeigelaufenen werden gebeten, sich zu entfernen. Minuten verstreichen. Bald Zwanzig Minuten. K. läuft auf ihrem Balkon auf und ab. Ein Bekannter, selbst Feuerwehrmann, klingelt an der Tür. Er informiert sie darüber, dass die Alte nun fortgebracht wird. Blut, das in ihr Hirn läuft, heißt es. – K. ist außer sich. Sie greift zum Telefonhörer. Ein Gespräch mit ihrem besten Freund, als wäre es gestern gewesen. Jahre liegen dazwischen. Doch er ist wie immer. Sie hat nicht nachgedacht, sondern dem Drängen nachgegeben. Wer ist er? – Sie waren ein Mal beste Freunde. Er verfügt über einen Umschlag, auf den Sie in großen, runden Lettern geschrieben hat: „Im Vertrauen an meinen besten Freund“. Dieselben Lettern, die einst seitenlange Briefe an diese Figur formulierten. Jedes Mal, wenn der Himmel sich verdunkelte und den Sternen ihren Auftritt ermöglichte, fand sie Nacht für Nacht die Worte, die sie ihm mitteilen wollte. Eine groteske Verbindung, diese freundschaftliche Beziehung der beiden. Lasziv der Inhalt dieses einen Umschlags – er hatte versprochen, ihn zu vernichten. Sie war sich sicher, dass er es getan hatte. Ein Stückchen Sicherheit, dass wie Sand zwischen den Fingern verrinnt, wenn man versucht, danach zu greifen. Dieses Stückchen ist vielmehr ein intimes Gefühl, Vertrauen, das man nicht greifen, sondern nur fühlen kann. Sie erzählte ihm, was sie vorhin erlebt hatte. Er hörte geduldig zu. Ein wenig erstaunt über die Reaktion nach so langer Zeit war er. Ehe sie nach einem kurzen, vertrauten Gespräch den Hörer auflegte erinnerte sie sich an seine letzten Worte:
„Wenn sie Pech hat, liegt sie im Koma. Wenn sie Glück hat, ist sie tot.“
Alexander Bernhard Trust, zuletzt aktualisiert 2007 [PDF]